Ausstellungsführer
Hautnah. Wien 1900

Ausstellungsführer
Hautnah. Wien 1900, von Klimt zu Schiele und Kokoschka

2.6 — 23.8.2020

Im Wien um 1900 tragen eine Reihe von Künstlern zur markantesten Epoche der Entstehung der modernen Kunst bei. Mit der Ablehnung der Konventionen des Akademismus in der Malerei und des Historismus in Architektur und Kunsthandwerk machen sie es sich zur Aufgabe, die wahre Identität des Menschen des 20. Jh. zu enthüllen, um ihn mit seinen Urinstinkten und mit Natur und Kosmos zu versöhnen.

Die Ausstellung wirft einen ungewöhnlichen Blick auf das umfangreiche Werk, das diese Revolutionäre zwischen 1897 (Gründung der Wiener Secession) und 1918 (Auflösung des Österreichisch-Ungarischen Kaiserreiches) schufen. Sie schildert das Aufkommen einer neuen Sensibilität, die ihren Ausdruck in einer auf die Haut fokussierten plastischen Arbeit findet. Durch die Erkundung dieses sensiblen Organs geben die Wiener den Beziehungen zwischen dem modernen Menschen und der Welt, dem Gebrauchsgegenstand und seiner Umgebung sowie dem Haus und der Strasse eine neue Deutung.

Auf der ersten Etage wird dargestellt, wie die Wiener ihren Beitrag zur Moderne leisten, indem sie der Haut eine bisher unbekannte plastische Ausdruckskraft verleihen, während auf der zweiten Etage die Reform des Lebensrahmens und dessen Anpassung an die Bedürfnisse des neuen Menschen im Mittelpunkt stehen.

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1. Etage

1. Sektion / Weisse Haut

‘Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit!’ Mit dieser Devise der Wiener Secession, einer 1897 unter dem Vorsitz von Gustav Klimt gegründeten Vereinigung unabhängiger Künstler, wird eine Revolution in der Hauptstadt des alten Österreichisch-Ungarischen Kaiserreiches eingeleitet. Wie in anderen europäischen Städten ist auch in Wien die Zeit gekommen, einen eigenständigen, nationalen und modernen Stil zu schaffen. Es gilt, die Vorherrschaft von Akademismus und Historismus, welche die überholten Werte der Aristokratie aufrechterhalten, und den Konservatismus der Gesellschaft bildender Künstler Österreichs (Künstlerhaus) zu beenden.

1898 bauen die Secessionisten ein Ausstellungsgebäude, lancieren ein ehrgeiziges Veranstaltungsprogramm, das die grossen Namen der internationalen Moderne mit der lokalen Kunstszene vereint und gründen mit Ver Sacrum eine Kampfzeitschrift. Ein frischer Wind, der diese Dynamik unter das Zeichen einer Jahreszeit, des Frühlings, und eines Lebensalters, der Jugend, stellt, beflügelt die Geister. Die Nacktheit des menschlichen Körpers und der von ihrem prunkvollen Schmuck befreiten und auf ein glattes Weiss reduzierten Gebäudefassaden drückt zunächst den gemeinsamen Kampf für eine Rückkehr zur Wahrheit aus. Um diese unberührten Flächen bilden verschlungene Linien und Farbfelder einen bunten Rahmen aus stilisierten oder geometrischen Motiven.

2. Sektion / Farbige Haut

Während ihrer akademischen Ausbildung besuchen die Künstler Kurse im Aktzeichnen. Sie lernen, die Auswirkungen von Gelenk- und Muskelspiel auf die Oberfläche des Körpers zu analysieren. Das Modell hält die Pose und die Zeichnung wird korrigiert, bis sie den Professor zufriedenstellt. Erst dann wechselt der Schüler zur Ölmalerei und lernt, wie man in dünnen, abgetönten Lagen eine Hautfarbe wiedergibt.

Seit seiner Zeit an der Wiener Kunstgewerbeschule bekämpft Oskar Kokoschka die Statik der Posen und ihren konventionellen Charakter. Egon Schiele lässt den Schulhocker stehen, bewegt sich, beugt sich über seine Modelle und umkreist sie. Manchmal hält er nur einzelne Teile des Körpers fest. Zudem befreit er sich vom Diktat der Ausrichtung des Blatts, so dass sich einige seiner Arbeiten in unterschiedlichen Richtungen lesen lassen. Die wichtigste Neuerung betrifft den Bereich der Farbe, die autonom wird. Der Körper wird gleichmässig mit Farbe bedeckt oder in Zonen unterteilt. Reine Töne bezeichnen auf der Hautoberfläche die Reibungspunkte des Skeletts, den Druck der Organe oder den Andrang des Bluts und drücken aufsteigende Emotionen aus. In Schieles Spätwerk dient gelegentlich ein leuchtendes Rot zur Betonung erogener Zonen.

3. Sektion / Unter der Haut

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Anatomie die Königsdisziplin der Medizinischen Wissenschaften in Wien. Die Künstler sind von Beginn ihrer akademischen Ausbildung an mit der Sezierung konfrontiert. Sie besuchen die Sammlung farbiger Wachsmodelle, die im Museum des Josephinums ausgestellt ist. Sie verkehren mit den Professoren des Anatomischen Instituts, darunter Emil Zuckerkandl, der 1890 seinen berühmten Atlas der topographischen Anatomie des Menschen publiziert.

Um zu veranschaulichen, was die Sezierung aufdeckt, doch die Haut vor dem Auge verbirgt, dringen sie buchstäblich unter die Epidermis vor und bringen den Ausdruck eines komplexen unterirdischen Lebens zum Vorschein; eines Lebens, das aus Knochen, Nerven und Blut besteht und durch Instinkte und Emotionen zum Wallen gebracht wird. In den Porträts wird die Ölfarbe zur plastisch gestalteten und zerstossenen Materie auf der Leinwandfläche. Die Ikonografien des Martyriums Christi und der Heiligen sowie ihre offenen Wunden werden in Selbstporträts neu interpretiert und drücken den schmerzhaften Zustand des unverstandenen Schöpfers aus. Die Tätowierungen der ‘Naturvölker’ dienen als Vorlagen einer kreativen Kraft, die seit den Ursprüngen der Menschheit und vor der Entfremdung durch die Zivilisation am Werk war. Von ihren geometrischen Ornamenten sind die Prägungen der Ledereinbände und der Lederwaren der Wiener Werkstätte inspiriert.

4. Sektion / Hülle

Schon die Romantik hatte aus dem Schöpfer einen aussergewöhnlichen Menschen gemacht, der mit übersteigerter Sensibilität und einer angeborenen Fähigkeit zu visionären Erfahrungen ausgestattet war. In einem vom Spiritismus und Okkultismus geprägten Wien nehmen Künstler eine heilige Mission für sich in Anspruch: dem modernen Menschen die Existenz einer übersinnlichen Wirklichkeit zu offenbaren.

 

Die damaligen wissenschaftlichen Entdeckungen, die das Geheimnis der Elektrizität, des Magnetismus oder der Radioaktivität lüften, bestätigen ihre Intuition. Die Fotografien von Medien, die das Vorhandensein von Geistern oder von Doppelgängern, die ihre Körper verlassen, beweisen sollen, regen ihre Fantasie an. Die Illustrationen in theosophischen Handbüchern, die Strahlungsfelder und Farbschwingungen zeigen, sind für sie eine Quelle der Inspiration. Viele Künstler sind überzeugt, Erscheinungen erkennen zu können, die für das Auge des einfachen Menschen unsichtbar sind und statten die Körper mit astralen Hüllen, Auren und Wellen aus oder geben den Gedanken Farben und Formen.

‘Ich male das Licht, welches aus allen Körpern kommt’, schreibt Schiele. Wie Oskar Kokoschka, Richard Gerstl, Max Oppenheimer und Koloman Moser schlägt er innovative Bildlösungen vor, mit denen er die Bezüge zwischen Materie und Geist, Diesseits und Jenseits wiederherstellen will.

5. Sektion / Der Raum als Haut

Mit dem Ausdruck ‘Raum als Haut’ lässt sich die markanteste Schöpfung der Wiener Moderne umschreiben: Ein neuer plastischer Raum verbindet den Körper und die innere Welt des Menschen mit dessen natürlicher und kosmischer Umgebung.

Die Künstler verlassen den von der Renaissance übernommenen perspektivischen Raum: Die Tiefe macht der Vereinigung verschiedener figürlicher wie ornamentaler Darstellungselemente auf ein und derselben Ebene Platz. In der Zeichnung werden Mutter und Kind, Mann und Frau oder ein lesbisches Paar eins und lösen sich zugunsten offener, schwingender Linien im Weiss des Papiers auf. In der Malerei gehen sie ineinander über und fügen sich zusammen wie Teile einer Einlegearbeit oder wie eine magmatische Materie, bis sie ein Ganzes, eine zusammenhängende Projektionsfläche, bilden.

Das Bild zeugt von einem Horror vacui, der die Geschichte der Rekonstruktion einer verlorenen Einheit erzählt. Die Landschaften von Klimt und Schiele sind besonders charakteristisch für diese Geschlossenheit der Fläche. Ihr quadratisches Format, das mit der Tradition des Panoramas bricht, und ihre fast ausserhalb des Blickfelds verlaufenden Horizontlinien verstärken den Eindruck, dass das Motiv einer beliebigen Probe aus der gespannten Haut des Universums entnommen ist.

2. Etage

6. Sektion / Sich wohl in seiner Haut fühlen

Im Bereich der angewandten Kunst unternimmt die Wiener Avantgarde die Reform des Lebensrahmens, um diesen an die Bedürfnisse des modernen Menschen anzupassen. Otto Wagner, der als erster dem Historismus und der repräsentativen Inneneinrichtung den Rücken kehrt, wird zum Lehrmeister der jüngeren Generation.

1903 gründen Josef Hoffmann und Koloman Moser die Wiener Werkstätte, einen Verein von Künstlern und Handwerkern, der die Massenproduktion bekämpft und die Qualität der Werkstoffe sowie das Fachwissen fördert. Es geht darum, für die Objekte einen neuen, funktionalen, wohnlichen und hygienischen Stil zu schaffen, in dem das Ornament der Form keinen Diskurs aufzwingt, sondern ihren Zweck und ihre Konstruktionsprinzipien bestätigt. Weiss und Schwarz dominieren. Die Motive entwickeln sich zu einem geometrischen Vokabular, das einen Gegensatz zur pflanzlichen Überfülle des Jugendstils bildet. Die Möbel werden leichter, um im Raum aufzugehen. Die Oberfläche der Objekte erhält sensible, taktile Motive.

Gefordert wird ein einheitliches Design für die Innenarchitektur, die als Gesamtkunstwerk zu konzipieren ist. Adolf Loos ist jedoch der Meinung, dass moderne Schönheit nicht aus einem neuen Stil hervorgeht, sondern auf der Fähigkeit des Künstlers beruht, sich an die Erwartungen der Auftraggeber anzupassen.

Zeittafel

1897
Gründung der Wiener Secession. Zu den frühesten Mitgliedern gehören Gustav Klimt, erster Präsident, Josef Engelhart, Josef Hoffmann, Max Kurzweil, Koloman Moser, Joseph Maria Olbrich und Alfred Roller.

1898
Erste Ausstellung der Secession. Lancierung ihrer Zeitschrift Ver Sacrum. Eröffnung ihres von Olbrich entworfenen Ausstellungsgebäudes.

1899
Eröffnung des Café Museum (eingerichtet von Adolf Loos).

1900
Von diesem Jahr an verbringt Klimt den Sommer in der Nähe von Attersee am gleichnamigen See.

1902
XIV. Ausstellung der Secession zu Ehren von Ludwig van Beethoven; Klimt malt einen von der Neunten Symphonie inspirierten Fries.

1903
Hoffmann, Moser und der Unternehmer Fritz Waerndorfer gründen die Wiener Werkstätte, eine Produktionsgemeinschaft bildender Künstler. Einzelausstellung von Klimt in der Secession.

1905
Die ‘Klimt-Gruppe’ (Klimt, Hoffmann, Moser, Wagner u. a.) verlässt die Secession aus Protest gegen den naturalistischen Flügel der Vereinigung.

1907
Moser verlässt die Wiener Werkstätte, um sich der Malerei zu widmen. Kokoschka arbeitet für die Wiener Werkstätte. Schiele lernt Klimt kennen, der sein Mentor wird. Eröffnung des Cabaret Fledermaus (eingerichtet von der Wiener Werkstätte unter Hoffmanns Leitung).

1908
Kunstschau, die von der Klimt-Gruppe in einem (von Hoffmann entworfenen) provisorischen Gebäude durchgeführt wird. Kokoschka lernt Loos kennen, der sein Mentor wird. Selbstmord von Gerstl.

1909
Internationale Kunstschau, an der auf Einladung Klimts Schiele und Kokoschka teilnehmen. Schiele tritt
aus der Kunstakademie aus und gründet die ‘Neukunstgruppe’.

1910
Kokoschka reist Loos in die Schweiz nach.

1911
Schiele hält sich in Krumau (Böhmen) auf.

1914
Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

1915
Schiele wird eingezogen und nach Prag geschickt. Kokoschka wird an der ukrainischen Front verletzt.

1918
Ende des Ersten Weltkrieges. Auflösung des Österreichisch-Ungarischen Kaiserreiches. Tod von Klimt, Wagner, Moser und Schiele.

Katalog

À fleur de peau. Vienne 1900, de Klimt à Schiele et Kokoschka

Catherine Lepdor et Camille Lévêque-Claudet (éd.) avec des textes de Marian Bisanz-Prakken, Claude Cernuschi, Matthias Haldemann, Astrid Kury, et Christian Witt-Dörring, coédition MCBA, Lausanne / Éditions Hazan, Paris, 2020, fr, 240p.

Avec le soutien des Amis du Musée, et de l’Österreichisches Kulturforum, Berne

CHF 52.60

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