Ausstellungsführer
Alain Huck. Respirer une fois sur deux
Die Ausstellung, die in enger Zusammenarbeit mit Alain Huck (*1957) entstand, bietet einen Überblick über ein fast dreissig jähriges Schaffen, von den ersten Werken auf Leinwand über die monumentalen Kohlezeichnungen, die den Künstler be rühmt machten, bis zu den neuesten Zeichnungen. Sie dreht sich um die Frage nach dem Text und seiner Beziehung zum Bild, nach der Sprache und ihrer Darstellung, nach dem, was gesagt werden kann oder was verschwiegen wird, nach dem, was Erinnerung ist, oder dem, was Geschichte macht. Wie in den Werken Bedeutungen aus der Montage von Text und Bild, aus der Überlagerung unterschiedlicher Bilder oder aus der Ungewissheit des Bilds selbst entstehen, beruht das Konzept der Ausstellung auf Ideenassoziationen. Huck schafft hier Dialoge zwischen Werken aus verschiedenen Perioden und von unter schiedlicher Natur. In einem nicht chronologischensinnstiftenden Parcours stehen Arbeiten aus wichtigen Zeichnungsserien neben Werken auf so vielfältigen Trägern wie Planen, Jutesäcken, Pflanzen oder Neonröhren.
In drei Räumen werden drei Themen behandelt, die sich durch Hucks Werk ziehen: die Frage nach der Natur, der Geschichte und dem Gesellschaftsvertrag. Weniger wahrnehmbar, doch im Titel der Ausstellung genannt und in den Werken präsent ist die Frage nach der Atmung: Respirer une fois sur deux [Jedes zweite Mal atmen]. Das Luftholen produziert den Atem, der die Artikulation der Sprache, die Formulierung von Erzählungen, die Weitergabe von Geschichte und den Beginn eines Narrativsermöglicht. Sie ist in den Werkträgern zu finden, deren Schwingungen durch die Luftströme der sich bewegenden Körper geschaffen wer den; sie ist der Atem, der zum Rundgang durch die Ausstellung benötigt wird.
1. Etage Raum 1
Natur
Der Satz Vite soyons heureux il le faut je le veux [Lasst uns rasch glücklich sein es muss sein ich will es] (2006), der auf farbenfrohe monumentale Stoffbahnen projiziert wird, empfängt die Besuchenden. Er ist zudem der Titel einer Serie von 269 Zeichnungen, die Hucks Arbeitsarchiv der Jahre 1993 bis 2007 bilden. Die Ausstellung mit diesem Satz zu eröffnen, betont die Tragweite des Texts für den Künstler und zugleich den unbeständigen Charakter von dessen Bedeutungen – er wird projiziert und ist somit vergänglich. Die Projektion dieses Satzes auf verschlissene Stoffe hebt zudem die Bedeutung des Trägers für die Formulierung eines Gedankens oder die Schaffung eines Werks hervor. Der Stoff verweist auf die Leinwand des Gemäldes, aber auch auf die schützende Plane, auf das, was die Haut umhüllt, sei es ein Kleidungsstück oder ein Schutzdach. Wer Projektion und Wandbehang sagt, denkt an Theater und Bühne, auf der wie in der Ausstellung ein Narrativ beginnen kann.
Gegenüber von Vite soyons heureux il le faut je le veux ist eine Auswahl von Zeichnungen aus der Serie Postanimal Beauty (1992–2023) zu sehen. In ihr vereint der Künstler ein Repertoire von Formen und Wörtern mit vielfältigen Bezügen, das intime Notizen, poetische Fragmente und Deklamationen umfasst. Der Titel der Serie regt zum Nachdenken über die Beziehungen zwischen Mensch und MehralsMenschliche (Postanimal) an, sei es im Pflanzen oder Tierreich oder in zukünftigen Welten.
Skulpturen aus organischen Stoffen – ein Floss aus Agaven, ein Bett aus Farnen – prägen den Raum. Das Vertikutieren der Agaven in Éden Éden Éden (2012) erinnert an die gewalttätige Beziehung des Menschen zum Lebendigen ungeachtet der Anspielung auf das Paradies, die im Werktitel nachhallt. In Addition de l’homme aux bêtes (2014) errät man in einem Haufen getrockneter Farne – Pflanzen, die es vor dem Menschen gab – den Abdruck eines Tiers, einer Katze. Er erinnert an jenen eines menschlichen Kopfs im Farnkissen von Sleeping without Eagles (2014), des sen Titel dem Traum des Künstlers – «sich fern von der Gewalt der Macht ausruhen» – zu entsprechen scheint.
Wenn die Besuchenden unter den Planen von Vite soyons heureux il le faut je le veux hindurchgehen, erwartet sie Walking without Dersou (2007), ein aus Bleigegossener Stock, ein paradoxes Objekt, das potenziell den weiteren Rundgang begleitet. Inspiriert vom rettenden Stock von Dersou Ouzala, dem Protagonisten des gleichnamigen Films von Akira Kurosawa (1975), der als Gehhilfe wie als Wünschelrutedient, repräsentiert er für Huck die Möglichkeit einer gerechten Beziehung zur Natur. So trägt Walking without Dersou zwar die Erinnerung an eine mögliche Harmonie mit den Naturelementen in sich, zeigt uns jedoch nur deren vergiftete Kehrseite.
1. Etage Raum 2
Geschichte
Dieser Raum vereint Werke, welche die Fiktion als Mittel einsetzen, um die Geschichte mit grossem G zu erzählen und die Katastrophe darzustellen – vom Ver schwinden eines Menschen und der Zerstörung von Körpern und alles Lebendigen. In der Zeichnung Chrysanthemum (2013) taucht aus dem Schwarz der Kohle eine Form auf, die zugleich Blume und die visuelle Darstellung einer Atomexplosion ist. Das Bild ist dem Werk Lehr uns, über unseren Wahnsinn hinauszuwachsen (1969) des japanischen Schriftstellers Kenzaburō Ōe entlehnt, in dem die Blume auch als Metapher für einen Tumor dient, an dem der Protagonist erkrankt. Der Text verknüpft den unermesslichen Schrecken der kollektiven Katastrophe mit der Ergriffenheit des Einzelnen.
Daneben «blicken» vier monumentale Zeichnungen mit dem Titel Année Zéro (2015) in den Raum. Die maskenartigen Gesichter in Menschengrösse ragen aus einem verkohlten Holzstück hervor, in den der Künstler zwei Löcher als Augen – oder als Zeichen für Blindheit? – gebohrt hat. In der Art von Erscheinungen stehen sie als einzige anthropomorphe Formen in einem vom Körper und seinem Veschwinden geprägten Raum der Skulptur Épitaphe (2008–2013) gegenüber, welche die Welt auf «völlig falsche» oder «völlig wahre» Weise zu erzählen beabsichtigt.
Die Ungewissheit gegenüber der Wahr haftigkeit einer Schilderung oder Erzäh lung wird in der Grafitzeichnungsserie Darkness of Heart (2017–2018) wörtlich dargestellt, indem eine Geschichte rückwärts erzählt wird. Dabei löst sich die Bedeutung der Sätze auf und an ihrer Stelle erscheint Bild. Auf elf Blättern hat der Künstler den gesamten Text von Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) rückwärts transkribiert, beginnend mit dem letzten Wort – darkness – und endend mit dem ersten. Die Grautöne der Schrift lassen den Kongo auf dem weissen Papier im Negativ erscheinen. Der Künstler folgt dem Flusslauf, indem er den Verlauf dieser vieldeutigen Erzählung über die koloniale Gewalt nachvollzieht, eines Texts, der sich zugleich als verdoppeltes Symptom dieser Gewalt erweist: Der Blick des Westens auf den afrikanischen Kontinent dient als Projektions flächeder eigenen Seelenzustände.
Mit Le Delta (2004–2005) hatte Huck zum ersten Mal die Idee erprobt, eine Zeichnung im Negativ innerhalb eines Texts erscheinen zu lassen, als Begegnung zweier Arbeiten aus der Serie Vite soyons heureux il le faut je le veux, die eine ein selbstverfasster Text, die andere das lavierte Luftbild eines Deltas. Dort, in dieser weiten Landschaft, in der das Weiss des Negativs ebenso präsent ist wie das Grauder Wörter, häufen sich von Zweifeln geprägte alltägliche Gedanken in der Art der von einem Fluss mitgeführten Sedimente an.
1. Etage Raum 3
Gesellschaftsvertrag
Im letzten Raum findet man die Hauptthemen der Arbeit des Künstlers wieder – die Beziehung zur Natur, zur Geschichte, zur Macht, zum Kollektiv –, ihre Widersprüche, aber auch die Vielfalt der bildnerischen Ausdrucksformen, denen Huck im Laufe der Jahre Gestalt verlieh.
Wie der Titel der Kohlezeichnung Certains dessins certains faits [Gewisse Zeich nungen, gewisse Tatsachen] (2006) in aller Schlichtheit sagt, stellt sich die Frage, worüber man in einem Lebenswerk sprechen kann und worum es eigentlich gegangen ist. Es handelt sich um eine Fest stellung der geleisteten Arbeit wie um ein Eingeständnis all dessen, was nicht gesagt oder dargestellt werden kann. Diese Nachtlandschaft, dieser Wirbel aus schwarzer Materie – der Kohle –, den Huck über mehr als zehn Jahre hinweg virtuos nutzte, wird nun in seinen Zu stand als Staub zurückversetzt, aus dem kein Bild hervortritt, es sei denn unser Spiegelbild in der schützenden Glasscheibe. Die Kohle, die das Bild überflutet, gibt es an anderer Stelle in Transparenz zu sehen, wie ein Nebel, der sich lichtet – um einen Blick, so lächerlich er auch sein mag, auf die Trostlosigkeit der Geschichte und das Schicksal der Menschen freizugeben.
So auch M Marzabotto (2008), eine monumentale Zeichnung, die Textfragmente über eine unbestimmte Landschaft legt und deren Titel auf die etruskischen Ruinen von Marzabotto anspielt, auf einen Ort, der von gewalttätigen Geschehnissen geprägt ist und 1944 Zeuge des Massakers seiner Bewohnerinnen und Bewohner durch die NaziTruppen wurde.
Die Ausstellung begann mit der Projektion der Worte Vite soyons heureux il le faut je le veux. Sie endet mit der Intimität der Zeichnungen der gleichnamigen Serie, die jedoch durch Grafit vergrössert, transponiert und verändert wurden, sowie mit dem Video Le langage (2005). Eine Stimme zählt mehr als 100 Tierarten auf – «die Sprache der Pelikane, die Sprache der Gnus, die Sprache der Dachse…» – und erinnert so an all jene Sprachen, deren Bedeutung unsent geht, weil wir nicht in der Lage sind, mit den unendlichen Modulationen der mehralsmenschlichen Welt in Resonanz zu treten. Im Gegensatz zu der verzweifelten Feststellung im Titel der Zeichnung Exit Lingua (2017), die direkt daneben hängt, und als Kontrapunkt zum angehaltenen Atem von Respirer une fois sur deux erinnert das Flüstern von Le langage wenn nicht an das Versprechen, so doch zumindest an den Versuch, trotz allem mittels des Atmens die Verbindung zum Rauschen des Lebens aufrechtzuerhalten.