Ausstellungsführer
Jardin d’Hiver #3. DECORAMA
Zwar ist heute erwiesen, dass das Ornament ein wesentliches Kennzeichen der Menschheit ist, doch haben seine Bedeutung und Legitimität seit jeher die Debatten belebt. Bereits in der Antike hatten es Plato und Aristoteles abwechselnd verurteilt und rehabilitiert. Während langer Zeit zum einen als nutzloses Trugbild, zum anderen als Symbol des Göttlichen und Wissensträger betrachtet, ist das Ornament eng mit den Begriffen von Zweck und Schönheit verbunden. Jahrhundertelang übte es eine moralische Funktion aus. Handwerker, Künstler und Bürger richteten sich nach den vorgeschriebenen Dekorstilen, in denen sich die vorherrschenden sozialen und religiösen Hierarchien spiegelten.
Mit dem Aufkommen der Moderne im 20. Jahrhundert wurde das Ornament, das man häufig mit dem Dekorativen gleichsetzte, durch funktionalistische und elitäre Diskurse diskreditiert oder verspottet. Persönlichkeiten wie Architekten Le Corbusier und Adolf Loos oder die Maler Wassily Kandinsky und Piet Mondrian stellten es in Frage. Zugleich bewirkten die Industrialisierung und die Mechanisierung, welche die endlose Reproduktion von Motiven ermöglichten, dass das Handwerk den «niederen » Künsten zugeordnet wurde.
Bereits früh führte das Ornament zu Fragen über Genderidentität und sexuelle Orientierung. Mit Schmuck und Weiblichkeit in Verbindung gebracht, wurde es oft als ungehörige, exzessive oder gar monströse Frivolität wahrgenommen. Seit der Postmoderne hat es jedoch erneut einen legitimen Platz in den «hohen» Künsten erlangt. In Wirklichkeit war es stets mehr oder weniger offenkundig als formale, konzeptionelle, aber auch politische Strategie in der Kunst präsent gewesen.
Die Ausstellung DECORAMA präsentiert bildende Kunstschaffende, die in ihrer Tätigkeit Ornament und Dekoration als Mittel verwenden, um Begriffe wie Geschmack, Klasse und Geschlecht zu untersuchen. Auch wenn es spekulativ erscheinen mag, unterschiedlichste Praktiken geografisch zusammenzuführen, steht die Ausstellung in einer langen Waadtländer Tradition, die mit der Entwicklung und Aufwertung der dekorativen und angewandten Kunst verbunden ist.
Die Ausstellung DECORAMA ist eine Hommage an den Marc Camille Chaimowicz (Paris 1947–2024 London), der vor einem Jahr starb und dessen Werk und Denken ihr zugrunde liegen.
Die Kunstschaffenden
Elie Autin (*1997)
Die Arbeit ist Teil einer insbesondere durch Performance geprägten multidisziplinären Praxis von Elie Autin. Die Serie Gardiennes markiert einen wichtigen Moment in der Realisierung ihrer visuellen Werke: Es handelt sich um ein Selbstporträt-Objekt, das die Betrachtenden einlädt, mit ihm in Kontakt zu treten. Das Werk wird so zu einer potenziellen Aktion, einer Verlängerung des Körpers, die eine Absicht, eine Geschichte, eine Erinnerung zu tragen imstande ist. In dieser Serie stehen Schutz und Verteidigung im Mittelpunkt des Konzepts. Darüber hinaus bezieht Autin durch eine Reflexion über Rassismus politische und soziale Dimensionen ein. Mithilfe eines von Emanzipationswünschen geprägten Narrativs ruft sie Bacchantinnen und Furien herbei, nicht als einfache Referenzen, sondern als Ausgangspunkt, um bestimmte westliche Unterdrückungsdiskurse zu hinterfragen. Dabei geht es darum, normative Narrative zu dekonstruieren und einen Raum für andere Stimmen, andere Körper und andere Mythologien zu öffnen.
Caroline Bachmann (*1963)
Der Genfersee, der sich in ständigem Wandel befindet, bietet eine Abfolge von Ebenen und farblichen Variationen, die Caroline Bachmann in Formen und Farbtöne umsetzt. Indem sie ihr Augenmerk auf klimatische Phänomene richtet, welche die Farben des Sees beeinflussen, beweist sie in den feinen Abstufungen ihrer Gemälde ihr langjähriges Interesse für die Auswirkungen des Lichts auf verschiedene Flächen. Ihre figurative und zugleich synthetische Malerei steht in der Tradition ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger –von der italienischen Renaissance bis zur amerikanischen Landschaftsmalerei des frühen 20. Jahrhunderts und insbesondere Louis Michel Eilshemius–, ohne dass es ihr um Hommage geht. Ihre Beobachtungen des Sees führen zu Zeichnungen, die von präzisen Notizen über Wertigkeiten, Farben, Formen und die Position der Himmelskörper begleitet sind. Anschliessend malt sie in der Intimität ihres Ateliers, spät in der Nacht oder sehr früh am Morgen, wobei sie sich auf diese vor Ort gemachten Aufzeichnungen stützt.
Pauline Boudry (*1972) & Renate Lorenz (*1963)
Eine neue Serie von Wandskulpturen aus Kunsthaar, die anlässlich von DECORAMA entstand, erinnert an die für die Arbeiten von Pauline Boudry und Renate Lorenz charakteristische Materialassemblage, die eine Spannung zwischen den Begriffen Begehren und Ekel erzeugt. Wie diese leblose Masse glänzender Haare spielt auch der eindrucksvolle Vorhang aus Kunstleder, der die Besuchenden im ersten Ausstellungsraum empfängt, mit der Konfrontation widersprüchlicher Welten. Die Materialität dieses Stoffs –ein Star in Fetischkreisen– kontrastiert mit den auf- wendigen Drapierungen, die auf die prunkvollen Vorhänge der luxuriösen Wohnungen des 19. Jahrhunderts anspielen. Der Begriff des Ornaments steht auch im Mittelpunkt von Salomania, einem Video, das eine Tanzstunde der Choreografin Yvonne Rainer mit dem Künstler Wu Tsang zeigt. Der Tanz der sieben Schleier aus dem Film Salome (1923) von Alla Nazimova wird hier in verschiedenen –mehr oder weniger dekorierten– Schichten neu interpretiert und bildet so einen starken Gegensatz zu den Traditionen des post- modernen Tanzes.
Marc Camille Chaimowicz (1947–2024)
Das Video The Casting of the Maids… (2012) von Marc Camille Chaimowicz zeigt zwei junge Frauen, die sich auf ein Casting für das Theaterstück Die Zofen (1947) von Jean Genet vorbereiten. In diesem Stück ziehen die Zofen Solange und Claire die Kleider ihrer Herrin an und kehren in deren Abwesenheit durch ein subversives Rollenspiel die Machtverhältnisse um. Die Zofen ist eine scharfe Kritik an der Herrschaft der Bourgeoisie über die Arbeiterklasse, untersucht aber auch auf subtilere Weise die Performativität des Geschlechts. Chaimowicz greift diese Spannung in einem sorgfältig stilisierten Wohnambiente auf, das in einer «femininen» Farbpalette mit grünen, rosa und gelben Pastelltönen gehalten ist. Die beiden Frauen bewegen sich inmitten von Objekten –Schmuckstücken, Blumen, Accessoires und Dekorationsgegenständen –, die Weiblichkeit als etwas vom weiblichen Körper Unterschiedenes ästhetisieren. Hier erscheint Weiblichkeit weniger als biologische oder sexuelle Kategorie, sondern als eine Reihe visueller Codes und Gesten, die unabhängig von einer festen oder vorgegebenen Identität verkörpert werden können.
Sebastián Dávila (*1992)
Die von Sebastián Dávila entworfenen Konstruktionen aus durchbrochenen Umzugskartons sind von der traditionellen Architektur seines Heimatlands Puerto Rico inspiriert. La Mudanza (spanisch für Umzug) erinnert an den Wunsch der puertoricanischen Diaspora, in ihre Heimat zurückzukehren. Häufig wird diese Sehnsucht durch eine instabile Wirtschaft gestoppt, die, von Privatisierung und Gentrifizierung geprägt, die weniger privilegierte indigene Bevölkerung tendenziell auszugrenzen tendiert. Die –oft pflanzlichen und geometrischen– Ornamente greifen die Motive der Portale von Marquesinas auf. Diese Übergangsräume, die ursprünglich als Abstellplätze für Autos gedacht waren, doch meist als Patio dienen, sind wahre Mittelpunkte des Gemeinschaftslebens. Die Motive zeugen zudem von der Kolonialgeschichte und tragen die Spuren der verschiedenen Kulturen und Dekorationsstile, die in den Kolonien zirkulierten. Die Schlichtheit des Kartons kontrastiert mit der Monumentalität der Installation in situ, deren zentrale Beleuchtung ein Schattenspiel an den Wänden des Museums erzeugt. Die projizierten Motive lösen sich von ihrer Vorlage und scheinen an Autonomie zu gewinnen, als wollten sie ihre eigene Geschichte neu schreiben.
Sarah Margnetti (*1983)
Die in einen begrenzten Museumsraum eingeschlossene Installation von Sarah Margnetti kombiniert eine Tapete mit zwei eigens für diesen Anlass geschaffenen Gemälden und einem dritten Werk aus der Sammlung des MCBA. Dieser immersive Raum lädt zu einer Reflexion über Blickpunkt, Sichtweise und Bildkomposition ein. Die Tapete, die imstande ist, sich end- los fortzusetzen und ständig neue Bilder zu erzeugen, zeigt in zahllosen Kombinationen Hände, die sich berühren, halten oder streifen. Dieses Sujet setzt sich in Home Cinema (view from outside) und Home Cinema (view from inside) fort, zwei Gemälden, die eine Miniserie bilden, in der dieselbe Szene aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt wird. Im Zentrum der Installation verdichtet das Fenster –ein wiederkehrendes Motiv– die Reflexion der Künstlerin: Öffnung nach aussen, Streben nach Emanzipation, aber auch Rückzug auf sich selbst und sogar Eingeschlossensein.
Julie Monot (*1978)
Inspiriert von der Devise «Toujours agité, jamais abattu» (Stets rastlos, nie mutlos), welche die rückseitige Fassade der Villa Mon-Repos in Lausanne schmücken, bietet Julie Monot mit Toujours Agitée, Jamais Abattue eine kritische und feminisierte Neuinterpretation des Leitspruchs. Zu der eleganten Tischdecke im Esszimmer dieser bürgerlichen Villa kommen die sonntäglichen Hände eines beunruhigenden Wesens hinzu, welches die gedämpfte, phallozentrische Atmosphäre dieses Orts stört, der seit seinem Erwerb durch die Stadt Lausanne zu Beginn des 20. Jahrhunderts für verschiedene offizielle Zwecke genutzt wird. In der Höhe zieht eine Figur mit Blumenkopf den Blick unmittelbar auf sich. Der Titel bezieht sich auf den Eisenhut, die tödlichste Pflanze Europas, die hauptsächlich in den Alpen vorkommt und wild in städtischen Brachflächen wächst. Julie Monot, deren Arbeit häufig Ambivalenzen thematisiert, würdigt hier diese majestätische Giftpflanze, der in verschiedenen antiken Mythologien magische Kräfte zugeschrieben wurden.
Stéphane Nabil Petitmermet (*1998)
In seiner Arbeit befasst sich Stéphane Nabil Petitmermet besonders aufmerksam mit den Details seiner Gemälde. So stehen in The Wrong Trousers die manuellen Unregelmässigkeiten in der Ausführung der Motive im Kontrast zur Starrheit des Systems und werden zu Trägern einer grossen emotionalen Ladung. Petitmermet betont die Bedeutung der Handarbeit, weil diese eine Sensibilität vermittelt, die, in Form von Mustern und Rastern wieder- holt, die narrative Kraft des Bilds entschärft, um einer zur Abstraktion tendierenden Form von Authentizität Platz zu machen. In Antics befasst er sich insbesondere mit der Frage des Ornaments als Träger kultureller Identität und Instrument des kollektiven Gedächtnisses. Die Allgegenwart dekorativer Elemente in den Häusern seiner Familie in Beirut, wo er geboren wurde, hat natürlich sein bildnerisches Vokabular geprägt. Seine Ursprünge, lange Zeit Vorwand für Hommagen, treten nun in den Hintergrund und fördern eine Praxis, die stärker von Material und Machart geprägt ist und der Malerei eine offenere Zweckbestimmung lässt.
Guillaume Pilet (*1984)
Unter den allseits leicht erkennbaren geometrischen Motiven ist das Backsteinmuster tief in der kollektiven Vorstellung verankert. Sein Raster aus horizontalen und vertikalen Linien widersetzt sich jeder rein abstrakten Interpretation, da es unweigerlich auf eine architektonische und konstruktive Funktion verweist. In Locus Suspectus 1 und 2 verfremdet Guillaume Pilet diese Assoziation, indem er das Motiv auf ein zerbrechliches, transparentes Material überträgt und damit konzeptionell eine Blockierung bewirkt, die im Gegensatz zur üblichen sublimierenden Funktion von Glasmalerei steht. Der Künstler wählte zudem aus der Sammlung des MCBA Skulpturen von Frédéric Muller, Hansjörg Gisiger, Antoine Poncet, André Gigon, Marco Pellegrini und Pierre Oulevay aus, die er neben seinen eigenen Keramiken aus einer 2021 begonnenen Serie mit groben Nachbildungen von Alltagsobjekten stellt. Die auf Sockeln präsentierte Installation regt zum Nachdenken über die Verbindung zwischen Kunst und Nicht-Kunst sowie über die einzigartige Fähigkeit figurativer Bilder an, ein unheimliches Gefühl des Wiedererkennens auszulösen –ein Begriff, den Freud in seinem Essay Das Unheimliche (1919) theoretisch zu erfassen suchte und mit locus suspectus ins Lateinische übersetzte.