Ausstellungsführer
Immersion. Die Ursprünge: 1949-1969

Einführung

Die Ausstellung im Musée cantonal des Beaux-Arts zeigt zum ersten Mal die Entstehung der immersiven Kunst zwischen 1949 und 1969. Diese Zeit war geprägt von raumgreifenden Projekten und dem Bestreben, die traditionellen Kategorien des Kunstwerks zu überwinden. Die Environments stellen einen Bruch mit dem Alltag dar und bieten eine alternative ästhetische Erfahrung des Eintauchens.

Der Begriff «Immersion» gibt die Vorstellung wieder, sich (wörtlich) im Werk und nicht vor ihm zu befinden, und kennzeichnet alle hier aus- gestellten Werke. Vom lateinischen Wort immersio abgeleitet, das «Eintauchen» bedeutet, wird «Immersion» in Wörterbüchern definiert als «Handlung des Ein-oder Abtauchens (in eine Flüssigkeit, ein Medium)» (Petit Robert) oder als «Tatsache, sich in einem fremden Medium ohne direkten Kontakt mit seinem Herkunftsmilieu wiederzufinden» (Larousse). Immersion beruht also auf dem Überschreiten einer Schwelle, dem Übergang von einem Medium – oder Zustand – zu einem anderen.

Abgesehen von ihrer ästhetischen und konzeptuellen Verschiedenheit schaffen die immersiven Werke künstliche oder ungewöhnliche autonome und einschliessende Räume, die eine Schärfung und eine Desorientierung der Sinne bewirken.

Mit der aussergewöhnlichen Präsentation von vierzehn immersiven Installationen – einige sind erstmals seit Jahrzehnten als Rekonstruktionen wieder zu erleben – unterstreicht die Schau im Zeitalter der Virtualität die körperliche und polysensorische Erfahrung von Kunst.

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1. Etage

Environment
Christian Megert

Geboren 1936 in Bern (Schweiz)
1968

Ab 1959 verwendet Christian Megert Glas und Spiegelsplitter, die den Umraum bruchstückhaft reflektieren und die Auflösung der Komposition bewirken. 1962 schafft er im Rahmen der Ausstellung «Nul» im Stedelijk Museum Amsterdam sein erstes Environment aus festen und beweglichen Spiegelwänden. Doch erst für die documenta 4 in Kassel (1968) nutzt der Künstler die immersive und raumgreifende Dimension von Spiegeln. Im Ausstellungssektor«Ambiente–Environment», der insbesondere den mehr oder weniger immersiven Installationen gewidmet ist, führt Megert das Experiment in noch grösserem Umfang fort: Er präsentiert seinen ersten «Raum der Unendlichkeit», in dem Decke und Boden mit Spiegeln bedeckt sind, sodass sich der Raum virtuell erweitert. Sobald ihn das Publikum betritt, wird es mit der intensiven Wahrnehmung einer schwindelerregenden endlosen Vervielfachung konfrontiert. Das Werk ist der Höhepunkt von Megerts Recherchen, die er in seinem Manifest Ein neuer Raum (1961) zusammenfasst: «Wenn Sie einen Spiegel gegen einen Spiegel halten, finden Sie einen Raum ohne Ende und Grenzen, einen Raum mit unbeschränkten Möglichkeiten, einen neuen metaphysischen Raum.»

hole in home
Ferdinand Spindel

Essen (Deutschland), 1913 – Neuenkirchen (Deutschland) 1980
1966

Nachdem Ferdinand Spindel in Berlin als Gebrauchsgrafiker gearbeitet und sich anschliessend der Malerei zugewandt hat, entdeckt er 1963 den synthetischen Schaumstoff, den er zu seinem bevorzugten Arbeitsmaterial macht. Seine Werke folgen den Gesetzen des Schaums, der wie lebende Geschöpfe seine eigene Anatomie, seine unterschiedlichen Stärken und Dichten sowie eine besondere Reaktion auf Druck hat. 1966 entwickelt der Künstler seine bis dahin auf das Format des Staffeleibilds beschränkten Recherchen ins Monumentale. Er schafft dreidimensionale, bewohnbare Räume aus rosa Schaumstoff im Rahmen einer Ausstellung in der Galerie Zwirner in Köln und auf Einladung des Künstlerehepaars Ursula und Günter Tollmann, die ihr Haus in Gelsenkirchen in einen Ort zur Förderung der zeitgenössischen Kunst verwandelt haben. In ihrem Esszimmer installiert Spindel hole in home [Loch im Haus], eine Höhle aus rosa Schaumstoff. Das weiche synthetische Material, das gewöhnlich zum Polstern verwendet wird, verwandelt sich unter Spindels Händen in ein Kunstobjekt und eine beruhigende Hülle, in der die Besuchenden neue Kraft schöpfen können.

Luna
Fabio Mauri

Rom (Italien), 1926 – 2009
1968

Luna [Mond] wird erstmals am 25. Mai 1968 von 16 bis 20 Uhr im Rahmen des von Plinio De Martiis veranstalteten «Teatro delle mostre» [Theater der Ausstellungen] in seiner Galleria La Tartaruga in Rom gezeigt. Das Projekt kündigt eine neue Konzeption der Kunstausstellung als zeitlich auf ein paar Stunden beschränktes Ereignis an. Jeden Abend präsentiert ein anderer Künstler eine Installation, welche die physische Beteiligung der Betrachtenden voraussetzt. In Fabio Mauris Installation Luna betritt das Publikum einen mondartigen Raum, geht umher, setzt sich nieder, legt sich hin oder «schwimmt» in den Styroporkugeln, einer Art Mondstaub, dessen Reibung ein subtiles Rauschen erzeugt. Der Mond ist das Versprechen und das Ziel eines Wettlaufs ins All, der im folgenden Jahr zur Apollo-11-Mission führt, wobei die Mondlandung live auf den Fernsehbildschirmen der ganzen Welt zu sehen ist. Luna bietet eine sinnliche Erfahrung, die der Dunkelheit des Weltraums, der Stille des Kosmos und der Schwerelosigkeit gilt. Die Installation durchbricht die Grenzen zwischen Realität und Virtualität und entführt das aktiv beteiligte Publikum in eine künstliche Welt, in der es ein unbekanntes und ungeahntes Terrain erkundet.

Film Ambiente
Marinella Pirelli

Verona (Italien), 1925 – Varese (Italien), 2009
1968-1969
Sound-Rekonstruktion von Pietro Pirelli, 2022

Im Jahr 1968 arbeitet Marinella Pirelli an einer dreidimensionalen Einrichtung, in der sich die Bilder in der Tiefe materialisieren. Mit Film Ambiente [Film Environment] bietet sie ein immersives Filmerlebnis, das über das frontale Gegenüber hinausgeht. Zu diesem Zweck baut sie eine rechteckige Box, die das Publikum betreten kann. Die einzelnen Gittermodule werden von transparenten Paneelen begrenzt, auf die Bilder aus ihrem Film Nuovo Paradiso projiziert werden, der eine Reihe von Skulpturen des Künstlers Gino Marotta in Szene setzt. Für die erste Ausstellung des Werks in der Mailänder Galleria de Nieubourg im Jahr 1969 schafft der Designer Livio Castiglioni ein Soundsystem, dessen Töne unter anderem durch das Umhergehen des Publikums erzeugt werden. In Film Ambiente erhält der Film durch die Aktion des Publikums eine zusätzliche zeitliche Dimension, die über jene der Dreharbeiten und des Schnitts hinausgeht. Indem er gleichzeitig auf dem Bildschirm und Bildschirm unter Bildschirmen ist, durchbricht er die Projektionen, erweitert die klassische Beziehung zwischen Bild und Fläche und hebt den einzigen Blickwinkel der Kamera auf, um so das traditionelle Kinoerlebnis zu überwinden.

Vento di s. e. velocità 40 nodi
Laura Grisi

Rhodos (Griechenland) 1939 – 2017 Rom (Italien)
1968

Vento di s. e. velocità 40 nodi [Wind von Südost, Geschwindigkeit 40 Knoten] wird am 27. Mai 1968 in der Galleria La Tartaruga in Rom als Teil des «Teatro delle mostre» [Theater der Ausstellungen] präsentiert, einer Reihe von Veranstaltungen, die drei Wochen lang etwa ein Ereignis pro Tag zeigen. In einem geschlossenen Environment produziert Laura Grisi mithilfe von Ventilatoren das Gefühl eines starken Winds (74 km/h) und verändert so die Struktur und die Wahrnehmung des Umraums. Die Idee zu diesem Werk beruht auf der Erfahrung von Stürmen, welche die Künstlerin auf Reisen macht – Wetterphänomene, deren Auswirkungen sie mit elektronischen Geräten filmt und misst. Mit zunehmendem Scharfsinn, was Wahrnehmungsphänomene betrifft, untersucht Grisi den unfassbaren Charakter natürlicher Elemente wie Nebel, Luft, Regen und Wind, die sie in ihren Wetter-Environments der späten 1960er-Jahre künstlich nachahmt. Durch die Nachbildung von Naturphänomenen im künstlichen Raum der Galerie möchte sie das Publikum dazu anregen, eine neue Beziehung zur Natur zu entwickeln und den Zauber der Welt wiederzuentdecken.

Penetrable blanco y amarillo
Jesús Rafael Soto

Ciudad Bolívar (Venezuela), 1923 – 2005 Paris (Frankreich)
1968

«Betritt man ein Penetrable, hat man das Gefühl, in einen Lichtwirbel und eine Fülle von Schwingungen einzutauchen. Das Penetrable ist eine Art Konkretisierung dieser Fülle, in der ich die Menschen sich bewegen lasse, damit sie den ‘Körper’ des Raums spüren», erklärt Jesús Rafael Soto. Der kinetische Künstler stellt 1967 sein erstes Pénétrable in der Galerie Denise René in Paris vor. Im Jahr darauf schafft er das Penetrable blanco y amarillo [Weisses und hellgelbes Penetrable], das die Betrachtenden einschliesst. Schon das Betreten des Werks führt dazu, dass das Objekt und der Raum, der es umschliesst, mit dem ganzen Körper – sowohl visuell als auch taktil – wahrgenommen werden. Das Erfassen ist zudem psychischer Natur: «Wir leben in der Empfindung eines Werks […], das unser Wahrnehmungssystem des physischen Universums in Frage stellt und stört. Im Innern des Pénétrable erfahren wir eine Welt ohne Proportionen, deren Zentrum überall und deren Umfang nirgends ist, eine Welt ohne Formen, ohne Abschrankungen, ohne bildnerische Beziehungen, die ein Universum für sich selbst ist», erklärt der Künstler.

Fanflashtic
USCO

USCO
1968

USCO, auch bekannt als Company of Us oder Us Company, ist ein Kollektiv von Künstlern, Schriftstellern, Filmemachern, Ingenieuren und Komponisten, das 1963 von dem Ingenieur Michael Callahan, dem Maler Stephen Durkee und dem Schriftsteller Gerd Stern gegründet wurde. Durch die Kombination gebrauchter Objekte mit neuen Technologien verbinden ihre immersiven Installationen Licht, bewegte Bilder und Klänge. Die Mitglieder von USCO suchen die mentale und physische Erfahrung des in den Mittelpunkt des Werks gestellten Publikums zu verändern und durch eine synästhetische Vermischung visueller und akustischer Medien eine totale Sinnesstimulation zu erreichen Fanflashtic, das in der Presse als «Desorientierung der Sinne», «LSD-ähnliche Erfahrung» oder «Fun Art» bezeichnet wurde, war eines von elf Environments und Happenings (von Künstlern wie Allan Kaprow und Nam June Paik), die im Rahmen von «Intermedia ’68» zu sehen waren, einem im Februar und März 1968 veranstalteten Festival für experimentelle und multidisziplinäre Kunstformen.

2. Etage

Ambiente spaziale
Lucio Fontana

Rosario (Argentinien), 1899 – Comabbio (Italien), 1968
1967

Für seine Einzelausstellung in der Galleria del Naviglio in Mailand im Februar 1949 prä- sentiert Lucio Fontana Ambiente spaziale a luce nera [Räumliche Umgebung mit schwarzem Licht]. Dieses erste wirklich immersive Werk setzt die Ideen um, die in den Manifesten der um Fontana gebildeten Spatialisten-Gruppe ab 1947 verkündet werden. Für diese jungen Mailänder Künstler und Schriftsteller ist es eine Notwendigkeit, Malerei und Plastik in einer räumlichen Kunst zu verschmelzen, die mit einem «reinen, luftigen, universellen, schwebenden Bild» oder mit «künstlichen Formen, herrlichen Regenbögen, leuchtenden Schriften» gleichgesetzt wird. Für seine Retrospektive im Stedelijk Museum in Amsterdam und später im Van Abbemuseum in Eindhoven im Jahr 1967 schafft Fontana das hier gezeigte Ambiente spaziale, für ihn die ideale Neubearbeitung des Ambiente spaziale a luce nera von 1949, das als Schlüsselwerk seiner künstlerischen Laufbahn gilt. Der Künstler ersetzt die Pappmaché-Form, die er 1949 in der Galleria del Naviglio aufgehängt hatte, durch ein in fluoreszierender Farbe gestrichenes flaches Holzstück in Kommaform. Von 1949 bis zu seinem Tod im Jahr 1968 fertigt Fontana etwa 20 Ambienti spaziali an.

Une caverne de l’anti-matière
Pinot Gallizio

(Giuseppe Gallizio) [Alba (Italien) 1902 – 1964], assistiert von Giors Melanotte (Piergiorgio Gallizio) [Alba, (Italien) 1935 – 2003]
1958-1959

Ab 1957 entwickelt Pinot Gallizio seine «industrielle Malerei»: Gestützt auf seine früheren botanischen und pharmakologischen Recherchen, experimentiert der Künstler mit Mischungen aus Ölfarbe und Harz auf Leinwandrollen, die teilweise bis zu 70 m lang sind. Er möchte diese Rollen wie Stoff meterweise auf der Strasse, auf Märkten und in Kaufhäusern verkaufen, um Kunst für alle zugänglich zu machen. Im Mai 1959 bedeckt Pinot Gallizio Wände, Boden und Decke der Galerie René Drouin in Paris vollständig mit seinen «industriellen Gemälden», deren starker Geruch sich mit dem von verbrannten Naturharzen vermischt. Das Werk, das während seiner Entstehung den Titel «Antiwelt» trägt, wird in letzter Minute in Une caverne de l’anti-matière [Eine Höhle der Antimaterie] umbenannt, und das im gleichen Jahr, in dem Emilio Segrè und Owen Chamberlain den Nobelpreis für Physik für die Entdeckung des Antiprotons erhalten. Vom Künstler abwechselnd als «Antiwelt», «rudimentäre und unvollkommene Kathedrale» der Zukunft und «Antimaterie» bezeichnet, ist die «Höhle» gleichzeitig eine prähistorische Grotte und ein Atombunker.

Raemar Pink White
James Turrell

Geboren 1943 in Los Angeles (USA)
1969

Die entmaterialisierenden Effekte des Lichts und seiner Wahrnehmung stehen im Zentrum der Light and Space-Bewegung, einer Gruppe von Kunstschaffenden, die in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren in Kalifornien tätig ist und der James Turrell, Helen Pashgian, Robert Irwin und Douglas Wheeler angehören. 1968 und 1969 entwirft Turrell seine ersten immersiven Werke, die Shallow Space Construction [Konstruktion eines flachen Raums], die neun Konfigurationen, darunter Raemar Pink White, umfassen. In ihnen stört das Licht die Wahrnehmung des Raums, dessen Grenzen schwer zu erkennen sind. Sobald die Besuchenden in das Werk eintauchen, haben sie das Gefühl, dass sich Wände, Raum und Farben auflösen und verflüchtigen. Ein Nachlassen der Aufmerksamkeit genügt, um die Grenzen des Werks verschwinden zu lassen, wobei Empfindung und Wahrnehmung verwechselbar werden. Turrell nutzt das Licht nicht, um die beobachtbaren Strukturen der Welt zu zeigen, sondern um die Anwesenheit und die Macht des Lichts selbst zu demonstrieren, und spielt mit dessen Fähigkeit, eine diffuse Erhabenheit zu erzeugen.

Feather Room
Judy Chicago

(Judy Gerowitz, geb. Judith Cohen) [geb.
in Chicago (USA) 1939], in Zusammenarbeit mit Lloyd Hamrol (geb. in San Francisco (USA) 1937) und Eric Orr (Covington, Kentucky (USA) 1939 – 1998 Los Angeles (USA)
1966

Feather Room [Feder-Raum] wird von Judy Chicago zusammen mit Lloyd Hamrol und Eric Orr geschaffen, mit denen sie informell «The Rooms Company» bildet, entsprechend dem Bestreben, raumgrosse Environments zu schaffen. Nach den geometrischen Strukturen mit glatter Oberfläche ihrer früheren Arbeiten ist Feather Room ein Schlüsselwerk in ihrem Werdegang. Es leitet über zu einer Reihe von Werken mit Umweltbezug, die sie Atmospheres nennt und die eher sinnliche und flüchtige Erfahrungen gewähren. Durch die Veränderung der Atmosphäre sucht Chicago eine patriarchalische Welt zu feminisieren. Feather Room bietet eine diffuse, bewegliche Ästhetik mit organischem, luftigem Material im Gegensatz zu den harten Materialien und kantigen Formen der minimalistischen Skulpturen, mit denen sie sich zuvor beschäftigte. Die Ecken sind nicht mehr scharf, die Ebenen nicht mehr regelmässig: Die weiche, unscharfe Beschaffenheit der Architektur erweitert den Raum, ein Effekt, der durch das kontinuierliche, diffuse Licht verstärkt wird. Für die Künstlerin ist die immersive Dimension wichtig aufgrund ihrer starken Wirkung auf das Publikum, das von Licht und Federn umhüllt wird.

Passageway
Robert Morris

Kansas City (USA), 1931 – Kingston, New York (USA), 2018
1961

Im Rahmen einer Reihe von Performances, die von La Monte Young in Yoko Onos Loft in der Chambers Street 112 in Manhattan veranstaltet werden, kann das Publikum vom 3. bis 7. Juni 1961 die Installation Passageway [Durchgang] begehen. Die beklemmende und beunruhigende Wirkung der Immersion in einen sich verengenden Raum, dessen Ende nicht zu sehen ist, erzeugt eine solche Frustration, dass einige Personen die Wände mit Beleidigungen und Graffiti bedecken, wie die Tänzerin Yvonne Rainer, die den Ausruf «FUCK YOU BOB MORRIS» anbringt. Mit Passageway beabsichtigt Robert Morris, die physischen Grenzen des Körpers und die psychische Konsequenz dieser Klaustrophobie spürbar zu machen. Der Künstler entwirft das Werk zu einem Zeitpunkt, als der Aufschwung der Kreativität bei ihm mit einem persönlichen Unwohlsein einhergeht. «Das ist verbunden mit einer zunehmend negativen Einstellung und einer wachsenden Unfähigkeit, persönliche Beziehungen zu knüpfen. Ich versinke immer mehr in einer Art halb-autistischem Raum, aus dem der andere ausgeschlossen ist. […] Ich werde von meiner eigenen Welt aufgehängt, umklammert und festgehalten», erklärt der Künstler im Rückblick.

Spazio elastico
Gianni Colombo

Mailand (Italien), 1937 – 1993
1967

Gianni Colombo produziert optisch-geometrische und kinetische Werke innerhalb der Gruppo T, die er 1959 in Mailand mitbegründet. Im Sommer 1967 nimmt er an der Grazer Biennale «trigon 67» teil, für die er Spazio elastico [Elastischer Raum] schafft, einen abgedunkelten Raum, in dem elastische Schnüre, die mit einem phosphoreszierenden Lack beschichtet sind, auf ultraviolettes Licht reagieren. Diese Schnüre bilden ein Gitter, dessen Rechtwinkligkeit durch zwei Motoren gestört wird. Für den, der den Spazio elastico betritt, wird die geometrische Regelmässigkeit des Gitters zu einer Art Spinnennetz. Als wäre es eine Falle gelockt, sieht sich das Publikum physisch und psychisch in einem leuchtenden Netz aus Fäden gefangen, die sich immer wieder neu zusammenfügen und elastisch vernetzen. Die Besuchenden durchqueren die von den elastischen Fäden gebildeten kubischen Zellen und erleben ein Netz, das sich als desorientierendes Getriebe erweist, in dem man die Orientierung verliert. Die Installation ist so erfolgreich, dass sie im Januar 1968 ein weiteres Mal in der Galleria L’Attico in Rom ausgestellt wird und dem Künstler den ersten Preis für Malerei auf der XXXIV. Biennale von Venedig einbringt.

Sound Breaking Wall
Bruce Nauman

Geboren 1941 in Fort Wayne, Indiana (USA)
1969

In Sound Breaking Wall [Klang, die Wand durchbrechend] erzeugen in den Wänden verborgene Lautsprecher ambivalente menschliche Töne. Während eine Wand atmet, erzeugt die andere abwechselnd ein Lachen und ein klopfendes Geräusch. Die Besuchenden fühlen sich unbehaglich aufgrund der räumlichen Ambiguität des Tons, dessen Ursprung schwer zu identifizieren ist, und aufgrund des anthropomorphen Charakters dieses gespenstischen Raums. Die Schwierigkeit für das Publikum, Schallquellen zu erkennen und zu lokalisieren, die auf die räumliche Ausbreitung des Schalls zurückzuführen ist, lässt ein Gefühl bedrohlicher Unsicherheit entstehen. Es wird durch den Eindruck verdoppelt, sich in einem verhexten Raum zu befinden, in dessen Wände ein oder mehrere Lebewesen eingesperrt sind. Die Absicht, unbequeme Räume und Formen zu schaffen, ist eine häufige Strategie Bruce Naumans. Sound Breaking Wall steht in der Tradition der frühen Werke des Künstlers, der in seinem Atelier seinen Körper und seine Bewegungen einsetzt, um in einem performativen Vorgehen mit dem Raum zu interagieren. Die eingeschränkte Sicht wird durch physisch und psychisch unangenehme Situationen ersetzt.