Besucherführer
Die Sammlung

Besucherführer
Die Sammlung

Hier sehen, was nirgendwo anders zu sehen ist! In diesem Sinn wurde der Rundgang konzipiert, der die Besucher*innen durch die der Sammlung des MCBA gewidmeten Ausstellungsräume führt. Seit 1816 ist diese Sammlung durch Ankäufe, Schenkungen, Vermächtnisse und Leihgaben kontinuierlich gewachsen. Sie ermöglicht Vergleiche mit internationalen Bewegungen, vermittelt aber auch eine Vorstellung vom Schaffen der Künstler aus der Waadt und, weiter gefasst, der französischsprachigen Schweiz, ob ihre Karriere nun im In‑ oder Ausland stattgefunden hat.

Einige Schwerpunkte sind zu erkennen: Klassizismus, Akademismus, Realismus, Symbolismus und Postimpressionismus; abstrakte Malerei in Europa und den Vereinigten Staaten; Schweizer und internationale Videokunst; neue Figürlichkeit; geometrische Abstraktion; und schliesslich künstlerische Praktiken, die von politischem und sozialem Engagement zeugen, aus allen Perioden. Zudem umfasst die Sammlung bedeutende Künstlerbestände, darunter jene von Charles Gleyre, Félix Vallotton, Louis Soutter, Pierre Soulages und Giuseppe Penone.

Die Besichtigung erfolgt auf zwei Stockwerken. Die präsentierte Auswahl entwickelt sich regelmässig weiter. Leihgaben aus privaten Sammlungen führen einen Dialog mit jenen der kantonalen Sammlung, ein Präludium zu der ständigen Erneuerung des Blicks, der in Lausanne auf die bewundernswerte Lebenskraft der Kunst geworfen wird.

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1. Stockwerk

Raum 1
Auf dem Weg zur Moderne

Sakrale Malerei

Im 12. Jahrhundert macht sich im Europa der Vorrenaissance ein neues Gefühl bemerkbar: Die Kunstschaffenden beginnen nun den Menschen in den Mittelpunkt der Welt zu stellen. Die Bibel und die apokryphen Evangelien bleiben die wichtigsten Inspirationsquellen. Die zarten Episoden aus der Kindheit von Maria und Jesus eignen sich für eine realistischere Darstellung menschlicher Ausdrucksformen, Naturlandschaften und Bauwerken (FRANCESCO DA RIMINI, UNKREIS VON PIETER COECKE VAN AELEST). Das Alte Testament regt zu ambitionierten Kompositionen im Gross-format an. In der Nachfolge von Caravaggio nutzt die neapolitanische Schule das Helldunkel, um grosse moralische Themen zu dramatisieren (ANDREA VACCARO, LUCA GIORDANO).

Porträtmalerei

Das Einzelbildnis setzt sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Kunst durch. Im Frankreich Ludwigs XIV. bemühen sich die Porträtmaler, die physische Erscheinung, den sozialen Rang und die besonderen Eigen- schaften ihrer Modelle realistisch wiederzugeben, ob diese nun aus dem Adel oder dem Bürgertum stammen (HYACINTHE RIGAUD). Die Maler, die für ihre Tätigkeit den Status der freien Kunst beanspruchen, stellen sich selbst mit ihren Attributen dar (NICOLAS DE LARGILLIERRE).

Exotismus

Im ausgehenden 18. Jahrhundert ziehen viele Schweizer Künstler nach Paris oder Italien und träumen davon, sich mittels Historienmalerei einen Namen zu machen. LOUIS DUCROS und JACQUES SABLET lassen sich dauerhaft in Rom nieder. Von sakralen Kunstaufträgen ausgeschlossen, die den katholischen Künstlern vorbehalten bleiben, spezialisiert sich Ducros auf grossformatige Ansichten antiker Denkmäler und malerischer Stätten, während Sablet vorzugsweise Gruppenbildnisse unter freiem Himmel und volkstümliche Szenen darstellt. Eine Generation später begibt sich CHARLES GLEYRE nach Studien in Paris und einem Aufenthalt in Rom in den Orient und unternimmt eine lange Reise, die ihn von Griechenland bis nach Nubien führt. Zurück in Paris, widmet er sich der antikisierenden Historienmalerei und versteht dabei romantische Leidenschaft und akademische Strenge in einzigartiger Weise zu verknüpfen. Zudem beginnt er zu unterrichten und empfängt in seinem Atelier die künftigen Impressionisten Monet, Renoir und Sisley.

Landschaftsmalerei

In den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts kommt in der Landschaftsma- lerei eine meteorologische Sensibilität zum Ausdruck, in der sich das Gefühl der Unsicherheit spiegelt, das die Zeit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege prägt. Mit ihren Gewittern und Vulkan- ausbrüchen, aber auch mit ihren trostlosen Weiten kündet die Katastrophen- malerei von der Einsamkeit des Menschen und der erhabenen Grösse
der Natur.

Historienmalerei

Die grosse Herausforderung für die Schweizer Künstler besteht darin, eine Historienmalerei zu entwickeln, die den Unabhängigkeitsdrang und die demokratischen Ideale ihres Landes ausdrückt und den Aufbau einer modernen nationalen Identität fördert (JEAN-PIERRE SAINT-OURS, CHARLES GLEYRE).

Raum 2
Der Triumph des Realismus

Im 19. Jahrhundert entwickelt sich die Schweiz nach und nach zu einem einheitlichen Bundesstaat. Da eine zentrale akademische Ausbildung und ein dynamischer inländischer Kunstmarkt fehlen, begeben sich die Schweizer Künstler oft ins Ausland. In der Landschafts-und der Genremalerei können sie ihre Besonderheit beweisen. Die Genfer FRANÇOIS DIDAY und ALEXANDRE CALAME sind die ersten, die mit der Darstellung typisch helvetischer Landschaften die Voraussetzungen für eine Schweizer Kunst schaffen. Diday gestaltet hohe Alpengipfel in einer monumentalen, erhabenen Sichtweise, die noch stark von der Romantik geprägt ist. Sein Schüler Calame, der von der niederländischen Malerei des 17. Jahr- hunderts beeinflusst ist, bevorzugt Ansichten in mittlerer Höhe. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts profitieren die Schweizer vom

Triumph des Realismus – vom Naturalismus bis zum Impressionismus –, um sich im Pariser Salon durchzusetzen. In ihren Bildern stellen sie Bräuche und Trachten der Landleute dar, die abseits der Grossstädte von der industriellen Revolution verschont bleiben, der die agrarisch und handwerklich geprägte Gesellschaft zum Opfer fällt. EUGÈNE BURNAND und ERNEST BIÉLER schaffen Tierbilder und Genreszenen in dem bisher der Historienmalerei vorbehaltenen Grossformat. FRÉDÉRIC ROUGE und ALBERT ANKER porträtieren soziale und berufliche Typen und interessieren sich für die Welt der Kindheit. Die Schule von Barbizon und die Aufenthalte in der Westschweiz von Jean-Baptiste Camille Corot und Gustave Courbet, der im Exil in La Tour-de-Peilz lebt, üben einen grossen Einfluss auf die jüngere Generation aus, die sich der intimen Land- schaft zuwendet. François Bocion, ein Anhänger der atmosphärischen Freilichtmalerei, macht den Genfersee zu seinem Hauptthema und beobachtet unermüdlich das Spiel des Sonnenlichts auf dem Wasser und den Durchzug der Wolken am Himmel. Nach seinem Studium in Paris lässt er sich dauerhaft in Lausanne nieder, wo er eine lokale Kundschaft gewinnt. In der Porträtmalerei lädt der Impressionismus dazu ein, intime Momente unter freiem Himmel oder in bürgerlichen Salons zu studieren. Die Begegnung mit dem Maler wird zu einem Moment der Wahrheit fernab gesellschaftlicher Konventionen. Die Modelle werden in ihrer vertrauten Haltung, ihrer Ruhe, ihrer Freizeit oder bei ihren Alltagstätigkeiten gezeigt (LOUISE BRESLAU, CHARLES GIRON). Wie der belgische Bildhauer CONSTANTIN MEUNIER, der die Strapazen der Arbeiter
in einem realistischen Stil wiedergibt, stellt der Schweizer THÉOPHILE-ALEXANDRE STEINLEN seine Kunst in den Dienst seiner politischen Überzeugungen und seines engagierten Kampfs gegen soziale Ungerech- tigkeiten. Im Viertel von Montmartre ansässig, zeigt er das Tag-und Nachtleben der kleinen Leute, zu deren Sprecher er sich macht.

Raum 3
Postimpressionismus

In den späten 1880er-Jahren werden die Impressionisten (CLAUDE MONET) von einer neuen Künstlergeneration verdrängt. In dieser Übergangs- zeit, die den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts vorausgeht, entstehen zahlreiche neue Stile und Bewegungen.

Der Symbolismus, eine Bewegung von europäischer Spannweite, erfasst Literatur, Musik und bildende Kunst. Seine Vertreter verstehen sich als Feinde des Materialismus und des rationalen Denkens und flüchten sich fernab der Moderne in Träume und Ideale. Alle traditionellen Gattungen werden von ihnen aufgegriffen und durch das Prisma der individuellen Emotion und der poetischen Anspielung neu gedeutet. Das Porträt wird introspektiv und interessiert sich für die Bewusstseins- zustände der Individuen, die es durch Symbole, abwesende Blicke oder rätselhafte und melancholische Stimmungen zum Ausdruck bringt (FERDINAND HODLER, AUGUSTO SARTORI). Die Landschaft wird zu einem Spiegel der Seele: Sie nimmt deren Projektionen auf, fördert den Traum und spielt auf das Mysterium an (EDMOND BILLE, ALEXANDRE PERRIER). Antike Mythen dienen als Vorlage für neue Epen, deren ebenso strenge wie besorgte Helden die Gebrechlichkeit des Menschen und die Eitelkeit seiner Hoffnungen verkörpern (PLINIO NOMELLINI). Ovids Metamorphosen, aber auch Sagen und Märchen sind beliebt: Dank ihnen lässt sich die immer durchlässigere Grenze zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen ausloten (ERNEST BIÉLER).

Zur gleichen Zeit setzt sich auf internationaler Ebene ein grafischer Stil durch, der bis in die Porträt-und Landschaftsmalerei auf Flächigkeit, Synthese und formale Stilisierung, aber auch auf die musikalische Organisation der Kompositionen setzt. Unter dem Einfluss von Paul Gauguin betrachten die Nabis-Künstler das Gemälde nicht mehr als Fenster zur Welt, sondern als Ausdruck einer Vision, die sie durch eine Assemblage aus nebeneinandergesetzten glatten Farbflächen wiedergeben. Zu dieser Gruppe gehört auch FÉLIX VALLOTTON,, dessen frühe Gemälde den Einfluss Hans Holbeins bewahren, doch bereits eine kritische Sicht auf die zeitgenössische Gesellschaft erkennen lassen. Auch er übernimmt diese neue Ästhetik und bleibt in seinen Landschaften bis Anfang der 1900er-Jahre der Zweidimensionalität und dem Aufbau durch Farbflächen verhaftet.

Im Bereich der Plastik ist AUGUSTE RODIN der bemerkenswerteste Erneuerer einer Kunst, die sich zwischen klassischer Tradition und Moderne im Umbruch befindet. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt der Figur, deren Bewegung er als Ausdruck von Ideen und Gefühlen verherrlicht. Seine Erben wie ÉMILE-ANTOINE BOURDELLE gehen noch einen Schritt weiter und arbeiten mit Kerben, Vertiefungen und Verstümmelungen; der Sockel wird in die Gestaltung des Volumens integriert.

Raum 4
Von den Avantgarden bis in die 1950er-Jahre

In Paris sehen sich ALICE BAILLY und GUSTAVE BUCHET am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit einer lebendigen Kunstszene konfrontiert. Sie entdecken den Kubismus und den Futurismus und befassen sich mit der Darstellung der Bewegung. Buchet setzt seine Suche in der Nachfolge der Avantgarden fort, indem er sich vom Purismus von Amédée Ozenfant und Le Corbusier leiten lässt, die zu einer Rückkehr zu Ordnung, Strenge und Reinheit aufrufen.

In der Zwischenkriegszeit verweigern sich viele Kunstschaffende dem Streben der Avantgarden nach Abstraktion. Sie sind von dem Bedürfnis beseelt, zum Menschlichen zurückzukehren, und befassen sich erneut mit der Figuration. Das reife Werk von FÉLIX VALLOTTON steht im Einklang mit dem magischen Realismus. In seinen Landschaften gewinnt das Licht an Intensität: fahl in seinen Ansichten von Honfleur, warm in Cagnes und gegenüber der Seine-Mündung, flirrend im Unterholz. Die Ablehnung des Expressionismus ist offensichtlich bei NIKLAUS STOECKLIN, der die kritische Kälte der Neuen Sachlichkeit übernimmt, und bei FÉLIX LABISSE, der dem Surrealismus nahesteht und einen hyperrealistischen Stil in den Dienst einer Traumwelt stellt. Der Stil von BALTHUS ist ebenfalls asketisch. Die steife Haltung und der leere Blick seiner Modelle rufen ein Gefühl des Unbehagens hervor, das auch von den Bildern ausgeht, die FRANCIS GRUBER während des Zweiten Weltkrieges malt. Dieser Künstler taucht die harte Realität der Zeit und des menschlichen Daseins in ein kaltes Licht, das auf abgemagerte, in beklemmenden Räumen erstarrte Körper fällt.

Gleichzeitig bemächtigt sich ALBERTO GIACOMETTI der Figur, um das Bild, das er sich von ihr macht, wiederzugeben. Die physischen und psychischen Eigenschaften zu erfassen, erweist sich als unmögliches Ziel. Indem er die Skulptur von ihrem Sockel nimmt, hinterfragt er ihre Beziehung zum Betrachter und zum Raum. Seine hoch aufgeschossenen, frontalen Figuren, Stücken von zertrümmertem Magma gleich, bestehen aus kräftig gekneteter, ausgehöhlter Materie.

Wie Giacometti sucht JEAN DUBUFFET die physische Konfrontation mit Materialien. Er bedeckt seine Bilder mit dicken Schichten, die er dann abkratzt. Auf der Suche nach einer neuen Figürlichkeit setzt er summarische Mittel ein und entscheidet sich für grobe Linien und eine rohe Zeichnung, die er in der Kunst der Autodidakten, der ‘Primitiven’ und der ‘Verrückten’ bewundert. Der Bruch mit einer von der klassischen Tradition übernommenen kodifizierten Sprache und die Erkundung neuer Ausdrucksformen, um wieder an die Ursprünglichkeit anzuknüpfen, ist ein Vorgehen, das vielen Künstlern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeinsam ist. So sucht PAUL KLEE nach einer universellen Sprache, die in die Anfänge der Menschheit zurückführt, während LOUIS SOUTTER in seinen Fingermalereien mittels der Bewegung seines Körpers Werke von lebendiger Kraft und poetischer Sensibilität schafft.

2. Stockwerk

Raum 5
An der Schwelle zur Abstraktion: die 1950er-Jahre

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt sich die abstrakte Malerei in Frankreich wie in den Vereinigten Staaten in neue Richtungen, durch die sie sich von der charakteristischen Geometrie der Pioniere der Abstraktion (Kasimir Malewitsch, František Kupka, Piet Mondrian, Sonia Delaunay usw.) unterscheidet. Man sucht sie nun mit Bezeichnungen wie ‘lyrische Malerei’ oder ‘informelle Kunst’ zu umschreiben, ohne dass es allerdings gelingt, die Vielfalt der Ansätze zu erfassen. In Paris zum Beispiel schafft MARIA HELENA VIEIRA DA SILVA eine anspielungsreiche Malerei, deren fragmentierte Konstruktion an Architektur erinnert, während Pierre Soulages die Wirkung von Materie und Licht mit verschiedenen Werkzeugen, Materialien und Trägern erkundet. Europa zog auch amerikanische Maler an. In Italien entwickelt CY TWOMBLY eine intime und gelehrte Abstraktion, die sich auf die Antike bezieht. In Paris experimentiert BEAUFORD DELANEY, ein amerikanischer Künstler, mit den Möglichkeiten einer queeren Abstraktion, die gleichzeitig fliessend und leuchtend ist.
Der Impuls des kreativen Projekts selbst findet seinen Ausdruck in der Freiheit der malerischen Geste, die bis zur Sättigung des Bildraums reicht, wie das Gemälde von KIMBER SMITH zeigt.

Raum 6
Das Bild hinter sich lassen: von den 1960er- zu den 1970er-Jahren

In den späten 1960er-Jahren erschüttert die soziale Revolution in West- europa die Arbeit der Künstler, die nur darauf warten, sich von den Traditionen, die auf der Kunst lasten, zu befreien. Mit dem Aufkommen der Pop Art, die ihre Themen aus einer konsumorientierten und urbanen Kultur bezieht, ist die Malerei das erste von dieser Entwicklung betroffene Medium. Leuchtende Farben und Slogans beziehen sich auf Werbeanzeigen, von denen es damals in den Städten wimmelt (JANNIS KOUNELLIS, ÉMILIENNE FARNY). In Paris integrieren die Vertreter des Nouveau Réalisme Objekte, die der Realität entnommen sind, in ihre Werke (DANIEL SPOERRI, DIETER ROTH). Inspiriert von der Fluxus-Bewegung, verkünden andere Künstler die Gleichrangigkeit von Kunst und Leben. Nicht ohne Humor beziehen sie alltägliche Gesten, Bilder und Gegenstände in ihre Arbeit ein und eignen sich industrielle Materialien wie Neon, Phosphor oder Plastik an (TADEUSZ KANTOR, JANOS URBAN). Gleichzeitig wird die Videokunst zu einem Betätigungsfeld für Experimente und visuelle Recherchen: Das bewegte Bild räumt dem Körper als Werkzeug des Aktivismus mehr Raum ein (VALIE EXPORT), während der Montage den Weg für formale Spiele öffnet (JEAN OTTH, NAM JUNE PAIK).

Raum 7
Körper/Raum: die 1980er-Jahre

In den 1980er-Jahren entwickelt sich in Malerei und Skulptur ein Trend, der im Gegensatz zur Strenge der Minimal Art und der Konzeptkunst des vorangegangenen Jahrzehnts steht und gleichzeitig in der Geschichte der Malerei des 20. Jahrhunderts wurzelt: der Neoexpressionismus. In Deutschland und Österreich wird er durch die Gruppe der Neuen Wilden verkörpert, in Italien durch die Transavanguardia, in den Vereinigten Staaten durch Bad Painting. Diese Form der freien, heftigen, überschwäng- lichen Figürlichkeit, die auch in der Schweiz zu finden ist, beruht auf einem ungestümen, hartnäckigen Gestus, der dem in kürzester Zeit ent- stehenden Bild gilt. Zeichnung und Malerei verlieren ihre Unterschei- dungsmerkmale: ob Kohle, Tinte, Aquarell oder Acryl, die Technik ist direkt, ohne Vorzeichnung, und nutzt oft Papierträger, wie bei MIRIAM CAHN, GÜNTHER BRUS oder BIRGIT JÜRGENSSEN. Falten und Knicke des Blatts zeugen vom vollen Körpereinsatz der intensiv und rasch arbeitenden Künstlerinnen und Künstler. Der Körper oder seine Spur sind sehr präsent, und einige Kunstschaffende greifen auf ihre persönliche Mythologie zurück, um ihn zu veranschaulichen. HÉLÈNE DELPRAT wählt für ihre Bilder der 1980er-Jahre einen figurativen Stil, der sich auf totemistische Figuren bezieht, während sich ALBERT OEHLEN in seiner gestischen Malerei, die sich allen technischen Zwängen verweigert, assoziationsreiche Motive aneignet

Raum 8
Abstraktionen

Sobald die Bilder von jedem Bezug zur Aussenwelt befreit sind, verweisen sie nur noch auf ihre eigene Form und Materialität: Das hatte Olivier Mosset 1969 als ‘Nullpunkt der Malerei’ bezeichnet. Sein fast zwanzig Jahre später entstandenes grosses rotes Monochrom zeigt diese Ereignislosigkeit. JOHN M ARMLEDER, der mit der Neo-Geo-Bewegung verknüpft wird, schafft ‘Möbelskulpturen’, die mit Humor auf den Zweck des Werkes als Salonschmuck hinweisen. Im Gefolge der Überlegungen dieser beiden Künstler über die Erneuerung der abstrakten Kunst herrscht in der Genferseeregion von den 1980er-Jahren bis heute ein ausgeprägtes Interesse an der geometrischen Abstraktion. Der individuelle Gestus des Künstlers wird nun durch den einheitlichen Farbauftrag auf der Leinwand ersetzt, und die Subjektivität spiegelt sich, durch die Geometrie der Motive neutralisiert, fast ausschliesslich in den formalen Entscheidungen. Während sich einige Kunstschaffende in ihren Werken auf persönliche Geschichten beziehen (JEAN-LUC MANZ), arbeiten andere nach einem vorge- gebenen Protokoll (CLAUDIA COMTE) oder unternehmen eine Reflexion über das Bildobjekt und den skulpturalen Charakter der Leinwand (PIERRE KELLER).

Raum 9 – 10
Rückgewinnung der Sichtbarkeit

Im Laufe der Geschichte wurden viele künstlerische Betrachtungsweisen marginalisiert oder ihrer Sichtbarkeit beraubt. Dies gilt insbesondere für «queere» Praktiken, die ihre politische Bedeutung und ästhetische Kraft aus der Geschichte nicht-normativer Gemeinschaften schöpfen, ohne jedoch eine feste oder starre Kategorie zu bilden. Im Gegenteil: die in diesem Raum vereinten Kunstschaffenden weigern sich, ein von Binarität geprägtes normatives System zu bedienen, und stellen den fluktuierenden, pluralistischen Charakter unserer Identitäten in den Mittelpunkt ihrer Reflexion. Trotz ihrer Vielfalt verbindet diese Ausdrucks-formen das Bestreben, die Sichtbarkeit zurückzugewinnen. TOM BURR, der in seine Arbeit häufig Designelemente einbezieht, beschäftigt sich mit der Erosion des öffentlichen Bereichs und unserer Situation als Zuschauende vor einem fantasierten Raum. Die beiden Podeste präsentieren sich wie leere Theaterbühnen für Vorführungen und Präsentatio- nen in der Art eines Dekors, der auf seinen Einsatz wartet. Indem SARAH MARGNETTI auf humorvolle Weise die Technik des Trompe-l’œil verfremdet und Körperfragmente einbezieht, hinterfragt sie die politische Dimension der häuslichen Sphäre und deren Architektur.Die komplexen Dynamiken zwischen Individualität und Kollektiv, privatem und öffentlichem Bereich sowie Innen und Aussen stehen im Mittelpunkt dieser Strategien der Sichtbarkeit. Während LUCIANO CASTELLI in Haarzupfer als sein Alter Ego Lucille auftritt, verewigt NINA CHILDRESS dagegen, fasziniert von den Mechanismen des Ruhms und den Bildern, die dieser erzeugt, die androgyne Silhouette des Schweizer Sängers Patrick Juvet, dessen heraus- fordernde Haltung Selbstbewusstsein verrät. Das performative Element, welches das Genre des Biopics parodiert, verleiht auch der Serie auto-biografisch geprägter Zeichnungen von GUILLAUME PILET Gestalt.

Die Arbeit von PAULINE BOUDRY / RENATE LORENZ hat ihren Ursprung in einer «Queer-Archäologie», um vergessenen Drag-Figuren nach einem Prinzip der Bildüberlagerung einen neuen Auftritt zu verschaffen. Der Film Normal Work ist von Archivfotografien inspiriert, die in den 1860er-Jahren in England von Hannah Cullwick aufgenommen wurden, einer Frau, die ihr ganzes Leben lang als Hausangestellte gearbeitet hat. Für die Aufnahmen posierte sie in Arbeitskleidung, aber auch als «Class Drag» oder «Ethnic Drag», das heisst als Bürgersfrau oder schwarze Sklavin. Dieser von dem Performer Werner Hirsch nachgespielte Gestus stellt die Frage nach der Überschreitung sozialer Normen und, um den Titel eines Buches der Philosophin Judith Butler zu zitieren, nach der Sichtbarkeit dieser «Körper von Gewicht».

Raum 11 + 13
Wörter und Bilder

Der Titel dieser Räume (Les mots et les images) ist von René Magritte übernommen, der 1929 in einem gleichnamigen Text die poetische Verwendung von Gegenständen und deren Namen in seinen Werken beschrieben hat. Fast 100 Jahre später lädt uns die Formel des surrealistischen Malers dazu ein, die Vielfalt der von Kunstschaffenden entwickelten Formenvokabulare hervorzuheben. Die hier gezeigten Werke vereinen daher einige dieser Lexika, schlagen Wörter zur Wiedergabe von Gedanken vor oder spielen mit Illusionen der Wahrnehmung, indem sie Formen und Bedeutungen verändern. Zunächst durchschreiten die Besuchenden das «Raumgedicht» von RENÉE GREEN, auf dessen farbigen Bannern sich die Verse eines Gedichts aneinanderreihen, das Laura Riding in den frühen 1930er-Jahren verfasste. Bei CHÉRIF und SILVIE DEFRAOUI wird die horizontal durchschnittene Schrift zu Zeichen und Ornament; LOUISE NEVELSON kombiniert vertraute Gegenstände, um ihnen eine neue Form zu geben, während sie zugleich deren ursprüngliche Identität durch den Auftrag schwarzer Farbe neutralisiert. In den Anamorphosen von MARKUS RAETZ tauchen Gewissheiten auf und verschwinden wieder, eine Verwirrung, die GIUSEPPE PEONONE aufgreift, um in seinen Werken die Geheimnisse des Sehens und seiner Darstellung zu analysieren. Schliesslich stellt WILLIAM KENTRIDGE in einer Reihe von Skulpturen ein Objektvokabular zusammen, dessen Elemente aus seinen früheren Arbeiten stammen. Die Subjektivität des Künstlers, die so dem Blick der Betrachtenden anheimgegeben wird, enthüllt ihr universelles Potenzial, indem sie gleichsam die Elemente einer Sprache schafft.

Raum 12
Denkmäler

Im Jahr 1982 gewann Maya Lin, damals Architekturstudentin an der Yale University, den Wettbewerb für das Vietnam Veterans Memorial. Dieses Kriegsdenkmal aus schwarzem Marmor in Form eines Bodeneinschnitts setzt einen expliziten Kontrapunkt zu der triumphierenden Vertikalität und weissen Farbe der anderen Monumente Washingtons. In ihrer Nachfolge gestalten viele Kunstschaffende die Komplexität der Gedächtnisprozesse und ihrer Darstellung durch ‘Anti-Denkmäler’, die eher Abwesenheit, Leere und Verlust als eine versöhnende Geste andeuten. Man denke an das Mahnmal gegen Faschismus von Esther Shalev-Gerz und Jochen Gerz (Hamburg-Harburg, 1986–1993), an das Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah von Rachel Whiteread (Wien, 2000), aber auch an Werke, die nicht für den öffentlichen Raum, sondern für das Museum geschaffen wurden, zum Beispiel Real Pictures (1995–2007) von Alfredo Jaar und Gurbet’s Diary von BANU CENNETOĞLU, aber auch, in einem dystopischeren Stil, Pacific Fiction – Study for a Monument von JULIAN CHARRIÈRE. Sie tragen alle auf ihre Weise zu einer antimonumentalen Form des Erinnerns bei und zeugen von der Schwierigkeit, dem Gedenken an Gewalt und den grossen Dramen der Geschichte eine bildnerische Form zu geben.

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