Guide de visite
Surrealismus. Le Grand Jeu

Ausstellung Surrealismus. Le Grand Jeu
Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne (MCBA)
12.4  — 25.8.2024

Guide de visite
Visitors guide

Im Jahr 1924 erscheint in Paris das erste Manifest des Surrealismus. Es legt den Grundstein für eine künstlerische Revolution, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. André Breton, der nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs der Herrschaft der Vernunft den Kampf ansagt, fordert in seinem Manifest die Versöhnung des Traums mit der Wirklichkeit.

Das Spiel nimmt dabei einen zentralen Platz ein. Festigt es zunächst als informelle Tätigkeit den surrealistischen Gruppengeist, so fördert es in der Folge die Entstehung eines kollektiven Denkens, das durch die Umkehrung traditioneller Werte, die Abschaffung alter Regeln und die Erfindung neuer Schaffensweisen geprägt ist.

Im ersten Ausstellungsgeschoss, das dem historischen Surrealismus gewidmet ist, wird das Spiel in seinen zahlreichen ebenso unterhaltsamen wie subversiven oder poetischen Aspekten behandelt, um zu zeigen, bis zu welchem Punkt es eine Weise des In-der-Welt-Seins darstellt. Die Ausstellung setzt sich im zweiten Obergeschoss fort, wo zeitgenössische Kunstschaffende den Schwung dieses libertären Geistes weiterführen, der unsere Weise, den Körper, die Sprache oder die Objekte in ihrer unendlichen Verwandlungsfähigkeit zu betrachten, erschüttert hat.

1.Etage

Schöpferische Strategien

Schach, das die Spielenden so in Anspruch zu nehmen vermag, dass sie ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen, übt eine wichtige Rolle in den ideologischen und ästhetischen Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts aus. Schachfiguren sind nicht nur dazu da, reines Denkvergnügen zu bereiten. Sie verweisen auch auf ein Ideal, in dem sich möglicherweise die reale Welt spiegelt, und sie dienen als Allegorie für die Funktionsweise der Gesellschaft, der Militärstrategie oder des Liebeskampfes.

Die Surrealisten übernehmen diese Deutung in ein symbolträchtiges Spiel ihrer Bewegung. In seiner Mischung aus zufälligen und vorhersehbaren Elementen wird Schach zu einer Metapher der surrealistischen Strategie. Während Marcel Duchamp sich wie ein Schachcomputer avant la lettre auf das Spiel konzentriert, testet Man Ray am Brett seine automatische Strategie des «desinteressierten Denkens» aus.

Schach ist der Ausgangspunkt dieser Ausstellungssektion, die von der Faszination des Surrealismus für schöpferische Strategien vom Automatismus bis hin zu Kinderspielen zeugt.

Das Schachspiel

«Eigentlich ist das Schachspiel ein Zeitvertreib, ein Spiel eben, das alle Welt spielen kann. Ich nahm es jedoch sehr ernst und fand daran Gefallen, weil ich Ähnlichkeiten zwischen Malerei und Schach entdeckte. Wenn Sie eine Schachpartie spielen, ist es in der Tat so, als würden Sie etwas skizzieren oder die Mechanik konstruieren, die Sie gewinnen oder verlieren lässt. Der Wettkampfcharakter der Sache hat keinerlei Bedeutung, doch das Spiel selbst ist sehr plastisch, und das zog mich vermutlich an.»
Marcel Duchamp

Der wichtigste und radikalste Schachspieler unter den Surrealisten ist Marcel Duchamp. Für ihn liegt die Schönheit des Schachs mehr in dem, was er «graue Materie» nennt, als im beobachtbaren Bereich: Damit bahnt er den Weg für eine konzeptuelle Annäherung an die Kunst. Da Schach auf einer geometrischen Struktur beruht, die auf eine unendliche Anzahl von Kombinationen verweist, wird es zu einer Metapher für die Suche nach künstlerischer Perfektion.

Automatismus

«Wir waren zugleich Empfangende und Mitwirkende der Freude, dem plötzlichen Auftauchen von Kreaturen beizuwohnen, die wir nicht vorhergesehen, aber dennoch geschaffen hatten.»
Simone Breton

Wie die Traumdeutung ist der surrealistische Automatismus eine Weise, den Geist zu befreien und den Rationalismus der modernen Welt in Frage zu stellen. Das unbewusste Schaffen, zum Beispiel die Kritzelei, dient als Katalysator für eine ganze Reihe von Künstlerinnen und Künstlern, die mithilfe von Improvisationsprozessen arbeiten.

Zwar findet der Automatismus seine symbolträchtigste Form im Cadavre exquis, doch bringt er zahlreiche erfinderische Praktiken hervor, die über die Strichzeichnung hinaus bis zu experimentellen Foto- und Filmtechniken an der Grenze zwischen Reflex und Halluzination reichen. In ihrem Manifest von 1924 bezeichnen sich die Surrealisten selbst als «bescheidene Registriermaschinen».

Kinderspiele

«Der Geist, der in den Surrealismus eintaucht, erlebt mit höchster Begeisterung den besten Teil seiner Kindheit wieder. […] Von den Kindheits- und einigen anderen Erinnerungen geht ein Gefühl der völligen Ungebundenheit aus und in der Folge das Gefühl, abgeirrt zu sein, das ich für das fruchtbarste von allen halte. Die Kindheit nähert uns vielleicht am meisten dem ‹wahren Leben›; […] Durch den Surrealismus scheinen diese Möglichkeiten wieder gegeben.»
André Breton

Für die Surrealisten besitzt das Kind, das von den Auswirkungen der Gesellschaft noch verschont ist, einen unmittelbareren Zugang zum Unbewussten als der Erwachsene. Indem sie den Mythos der Naivität und Spontaneität pflegen, sind sie von der Figur des Wunderkinds fasziniert und machen die Rückkehr zur Kindheit zu einer ihrer kreativen Strategien.

Anfang der 1930er-Jahre erregt die damals vierzehnjährige Gisèle Prassinos mit ihren in automatischer Schreibweise verfassten poetischen Kompositionen das Interesse der Surrealisten. Mit ihrem Bruder, dem Maler Mario Prassinos, führt sie einen intensiven kreativen Dialog, in dem ein häufig grausamer Sinn für Humor zutage tritt. Von den 1940er-Jahren an bevölkert die belgische Malerin Rachel Baes ihre Welt mit kleinen Mädchen, die mit ihren unheimlichen Zügen in eine fantasmagorische Welt vertieft sind.

Le Grand Jeu

«Le Grand Jeu ist unabänderlich; es kann nur einmal gespielt werden. Wir wollen es in jedem Augenblick unseres Lebens spielen.»
Roger Gilbert-Lecomte

Im Jahr 1923 gründen vier Gymnasiasten auf der Suche nach dem Absoluten – René Daumal, Roger Gilbert-Lecomte, Roger Vailland und Robert Meyrat – in Reims eine Gruppe, die sie «Phrères simplistes» nennen. Um die Einfachheit der Kindheit und die Möglichkeiten des kindlichen intuitiven und spontanen Erkennens wiederzufinden, geben sie sich mittels Drogen übersinnlichen und telepathischen Recherchen hin.

Danach bestrebt, ihre Epoche ihren Stempel aufzudrücken, erkennen sie sich zunächst in Bretons Surrealismus wieder, bevor sie ihrer Einzigartigkeit in Le Grand Jeu Ausdruck verleihen, einer kurzlebigen Zeitschrift, von der zwischen 1928 bis 1930 drei Ausgaben erscheinen. Der tschechisch-stämmige Maler Joseph Sima, der Zeichner und Dichter Maurice Henry und der Fotograf Artür Harfaux schliessen sich ihrer Sache an.

Die Magie des Bildes

Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten zieht sich eine Gruppe surrealistischer Künstlerinnen und Künstler im Winter 1940–1941 in die Villa Air-Bel oberhalb von Marseille zurück. Während sie auf ein
Visum warten, um Frankreich in Richtung Vereinigte Staaten zu verlassen, erfinden sie ein Kartenspiel, das seither als «Jeu de Marseille» bekannt ist. Die traditionellen Farben erhalten eine symbolische Dimension. Kreuz wird zum schwarzen Schlüsselloch des Wissens, Karo zum roten Blutfleck der Revolution, Pik zum schwarzen Stern des Traums und Herz zur roten Flamme der Liebe. Zudem wird die Hierarchie umgestossen. Aus König, Königin und Diener werden Genie, Meerjungfrau und Magier.

Die Surrealisten lassen sich häufig vom okkulten Symbolismus anregen und pflegen das traditionelle Bild des Künstlers, der Zauberer, Seher und Alchemist ist. Die Magie ist für sie ein poetischer und hochphilosophischer Diskurs, der mit einer Form individueller Emanzipation einhergeht. Das «Jeu de Marseille», das alte Bilder durch neue ersetzt, bildet den Ausgangspunkt dieser Ausstellungssektion, welche die zentrale Rolle der Esoterik in der Entwicklung der Bewegung beleuchtet.

Eine Welt in Metamorphose

Die Schaffung neuer Archetypen aus alten Mythen ist eine Konstante bei den Surrealisten. Ihre imaginäre Welt ist bevölkert von Mischwesen, Blumen-Insekten und Pflanzen-Tieren, die einen Verwandlungsprozess durchlaufen. In ihnen spiegelt sich die Intuition einer tiefen Einheit der Natur, in welcher Formen und Lebewesen koexistieren und sich ergänzen. Landschaften nehmen körperartige Formen an, Porträts entwickeln sich zu Landschaften, Puppen werden lebendig, Fleisch wird zu Stein, während sich in einem Spiel fantastischer Spiegelungen ein Schwan in einen Elefanten verwandelt.

Esoterik

Seit seinen Anfängen ist der Surrealismus eng mit Anarchismus und Esoterik verknüpft. Die bestehende Ordnung wird in Frage gestellt durch das Wirken magischer Kräfte, die direkt mit dem Unbewussten in Verbindung stehen. Viele Kunstschaffende machen daraus eine besondere Weise der Welterkenntnis, ohne deshalb einem Glauben anzuhängen oder eine Transzendenzlehre anzunehmen.

Rätselhafte Bilder entstehen aufgrund extremer formaler und massstäblicher Gegensätze oder durch den Einbezug scheinbar illustrativer Elemente in Kompositionen, die alles andere als rational sind.

Die Geheimnisse des Okkulten

«Magie gab dem Denken des Menschen immer neue Impulse. Sie befreite ihn von der Angst und verlieh ihm ein Gefühl der Macht, die Welt zu beherrschen, beflügelte seine Fantasie und hielt die Sehnsucht, immer Grösseres und Höheres zu vollbringen, in seinem Geiste wach.»
Kurt Seligmann

Im Jahr 1930 zitiert das Zweite Manifest des Surrealismus einen legendären Alchemisten des 14. Jahrhunderts: Nicolas Flamel. Indem Breton die «tiefe, wahrhafte Okkultierung des Surrealismus» fordert, bestätigt er seine Faszination für das Geheimnisvolle und Nicht-Kommunizierbare aus. Künstler wie Ithell Colquhoun und Kurt Seligmann betreiben umfangreiche Forschungen im Bereich des Okkulten, die sie in Anthologien publizieren.

Kabbala, Handlesekunst, Tarot oder Astrologie stossen auf das Interesse der Surrealisten und führen in ihrem Gepäck verschlüsselte Bilder mit sich, die es zu enträtseln gilt.

Spiel ohne Ende

«Nie wird ein Würfelwurf den Zufall aufheben.»
Stéphane Mallarmé

Das Würfelspiel führt die Surrealisten über den Bereich der Physik hinaus. Es geht darum, mit dem Zufall zu experimentieren. Wer sich die siebte Seite eines Würfels vorstellt, begibt sich in das unbegrenzte Spielfeld der weissen Seite, des Nichts, in dem alles endet und alles neu beginnt.

Georges Hugnets Buch La septième face du dé (1936), das zwanzig Collage-Gedichte enthält, ist kennzeichnend für diese spekulative Dimension des Surrealismus, die Erotik und Metaphysik verbindet. Auf dem Cover prangt eine Reproduktion von Marcel Duchamps Ready-Made Why Not Sneeze Rose Sélavy? (1921). Dieses weiblich anmutende fiktive Alter Ego, das wie «Eros, c’est la vie» (Eros ist das Leben) klingt, verweist auf Duchamps autoerotisches Spiel mit seiner eigenen Arbeit, das bis zur Überwindung von Geschlechtsidentitäten führt.

Ausgehend von der zentralen Figur Duchamps und dessen Interesse an Aleatorik, Spekulation, Erotik und nicht-retinaler Kunst, untersucht diese Ausstellungssektion die surrealistischen Verästelungen in Bereichen wie Abstraktion und Schweigen bis zur Vorstellung eines möglichen Endes des Spiels.

Jenseits der Figuration

Bretons 1942 geäusserter Forderung nach
einem «absoluten Automatismus» folgend, befreien sich einige Kunstschaffende vom Figurativen und wenden sich der Abstraktion zu. Der in den Vereinigten Staaten lebende französische Maler Yves Tanguy wagt sich an abstrakte Landschaften mit dunstiger Atmosphäre, die das Bild einer Welt in völliger Latenz bieten.

Marcel Duchamps Rotoreliefs, welche die Illusion von Volumen erzeugen, sind im Experimentalfilm Dreams That Money Can Buy (Träume zu verkaufen, 1947) des Künstlers und Filmemachers Hans Richter in Bewegung zu sehen. Während der Surrealismus für einige ein Schritt in Richtung Abstraktion bedeutet, wechseln viele Kunstschaffende hin und her, ohne darin eine Unvereinbarkeit zu sehen.

Stimmen des Schweigens

«Worauf habe ich so wahnsinnig gehofft? Und dieser Wahnsinn ist meine einzige Stärke.»
Unica Zürn

Sonja Sekula und Unica Zürn leiden beide an psychischen Krankheiten, was dazu beiträgt, dass ihr Werk lange unbeachtet bleibt. Heute haben ihre Stimmen das Schweigen gebrochen.

Sonja Sekula, die von 1936 bis 1955 in New York lebt, knüpft Kontakte zur Gemeinschaft der ausgewanderten surrealistischen Kunstschaffenden, zu der eine aufstrebende Generation amerikanischer abstrakter Expressionisten hinzugekommen ist. Die Künstlerin will sich nicht auf einen bestimmten Stil festlegen lassen und zieht die Aufmerksamkeit der Kritik auf sich, die in ihren Arbeiten den Einfluss der gestischen Abstraktion und der Kunst der amerikanischen Ureinwohner erkennt.

Unica Zürn, eine deutsche Künstlerin, die seit 1953 mit Hans Bellmer in Paris zusammenlebt, wechseltzwischen Schreiben und Zeichnen. Ihrem zarten Strich entspringen metamorphe Kreaturen, in denen sich ihre Fantasmen und Ängste spiegeln.

Ambivalenz des Begehrens

Die Erforschung des Unbewussten hat es den surrealistischen Kunstschaffenden ermöglicht, die von den gesellschaftlichen Konventionen diktierten Formen der Unterdrückung und Ausgrenzung in Frage zu stellen. Während ein Teil dieser Produktion die Wünsche heterosexueller Männer und deren Blick auf den weiblichen Körper spiegelt, setzt sich ein anderer Teil mit fliessenderen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität auseinander.

So erkunden etwa die provozierenden Inszenierungen von Pierre Molinier die Geheimnisse des autoerotischen Begehrens, während die Performance des Travestie- und Trapezkünstlers Barbette feste Geschlechtervorstellungen in Frage stellt. In Paris lässt Irène Zurkinden ihrer weiblichen Subjektivität freien Lauf, um ihr Begehren auszudrücken. Diese Bilder hinterfragen die traditionellen Begriffe von Privileg und Macht und stellen zugleich die Wünsche und Fantasmen der Kunstschaffenden dar.

Präsentierte Kunstwerke

1

Suzanne Duchamp, "The Blind Man", 1925

Comment

Marcel Duchamps Schwester porträtiert ihren Bruder als blinden Akkordeonspieler, der auf die Barmherzigkeit der Vorübergehenden angewiesen ist. Der Bildtitel spielt auf die gleichnamige Dada-Zeitschrift an, die 1917 in New York erschien. Anlässlich des Skandals, der durch die Weigerung ausgelöst wurde, Fountain (1917) zu zeigen, das berühmte Urinal, das Duchamp für die erste Ausstellung der Society of Independent Artists einreichte, ergriff die Zeitschrift Partei für den fiktiven Urheber R. Mutt. Die ironische Darstellung des Künstlers als Blinder steht im Gegensatz zum Mythos des visionären Künstlers und zeugt vom künstlerischen Austausch zwischen den Geschwistern Duchamp.

Bildunterschrift:
Suzanne Duchamp, The Blind Man, 1925. Öl auf Leinwand, 61 x 50,5 cm. Alychlo/Marc Coucke Art Collection Belgium. © Suzanne Duchamp / 2024, ProLitteris, Zurich

2

Marcel Duchamp, "Pocket Chess Set", 1944

Comment

Marcel Duchamp,

Nach der Ankündigung seines Rückzugs aus der Kunst im Jahr 1923 verbringt Marcel Duchamp das nächste Lebensjahrzehnt mit professionellen Schachturnieren, bis er den Meistertitel des französischen Schachverbands erhält. 1943 entwirft er ein Taschenschachspiel, mit dem man in jeder Situation üben kann. Er plant, es für Schachfreunde zu vermarkten mit der Garantie, dass die festgesteckten Figuren unterwegs an ihrem Platz bleiben, und präsentiert den Prototyp 1944 anlässlich der Ausstellung The Imagery of Chess in der Julien Levy Gallery in New York.

Bildunterschrift:
Marcel Duchamp, Pocket Chess Set, 1944. Taschenschachbrett aus Leder, Zelluloid, Stecknadeln, 16,5 x 10,1 cm. Courtesy Collection Thaddaeus Ropac, Paris · Salzburg © Association Marcel Duchamp / 2024, ProLitteris, Zurich

3A

Revue "Le Grand Jeu"

Comment

«Le Grand Jeu», schreibt René Daumal, «ist keine literarische, künstlerische, philosophische oder politische Zeitschrift. Le Grand Jeu ist ausschliesslich auf das Wesentliche ausgerichtet.» Als ehrgeiziges Abenteuer, das für die impulsiven Generationen der Zwischenkriegszeit beispielhaft ist, steht das kurzlebige Experiment der Gruppe und der Zeitschrift Le Grand Jeu in der Nachfolge Rimbauds und der grossen Mystiker. Die Texte mit ihrer häufig poetischen und philosophischen Wirkkraft bieten kein Programm. Die Gruppe löst sich 1932 auf, und die in Vorbereitung befindliche vierte Ausgabe der Zeitschrift ist nie erschienen.

Bildunterschrift:
Le Grand Jeu
Ausgabe 1, Sommer 1928
Ausgabe 2, Frühjahr 1929
Nummer 3, Herbst 1930
3 Ausgaben gross in 8, broschiert, unbeschnitten, gefüllte Deckel. Universitätsbibliothek Zürich, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Sammlung Giedion-Welcker

3B

Maurice Henry

Comment

Im Jahr 1932 wendet sich Maurice Henry von Le Grand Jeu ab und nähert sich den Surrealisten an. Er setzt seine Tätigkeit als Karikaturist, Journalist und Filmkritiker für die wichtigsten französischen Zeitschriften fort, nimmt jedoch gleichzeitig an den Aktivitäten der Gruppe teil. Zusammen mit Artür Harfaux verfasst er unter dem Namen «Gagmen associés» zahlreiche Filmdrehbücher. In den Bereich der Karikatur, der bis dahin auf einfache Witze über das bürgerliche Alltagsleben ausgerichtet war, führt Henry mit seinem virtuosen Strich das Unheimliche, den Traum und die Grausamkeit ein.

4

Dessins Daumal

Comment

Von Anfang an sieht sich Le Grand Jeu mit zwei Formen des Surrealismus konfrontiert: zum einen mit der frühen, oft esoterischen und anarchistischen Bewegung, zum anderen mit der dem Kommunismus zugewandten Richtung von 1926 und 1929. René Daumal, der vom mystischen Orient fasziniert ist, steht der primitiven Sichtweise von Antonin Artaud nahe. Von der Dekadenz des Westens überzeugt, fertigt er zahlreiche Zeichnungen an, die den weissen Mann im Umfeld einer totalen kolonialen Expansion blossstellen.

Bildunterschrift:
René Daumal, Grande Cérémonie magique pour la fin de la colonisation blanche chez les Wolofs, ohne Datum. Bleistift auf Papier (Vorder- und Rückseite). Stadt Reims, Stadtbibliothek, Fonds Grand Jeu, 5.1.1.5.

5

Joseph Sima, "Roger-Gilbert Lecomte dit Roger Gilbert-Lecomte", 1929

Comment

Joseph Sima,

Im Jahr 1930 präsentiert Joseph Sima elf Porträts von Mitgliedern des Grand Jeu in einer Einzelausstellung mit dem Titel L’Énigme de la Face. Die Fokussierung des Bilds auf das «Gesicht» schliesst jeden Bezug auf einen sozialen Kontext aus und verzichtet auf die Beschreibung zugunsten einer intensiven Erfassung des Individuums, das wie eine Erscheinung aus der Dunkelheit aufzutauchen scheint. Um das Rätsel des Dichters zu verstehen, sucht Sima den vergeistigten Ausdruck des inneren Lichts wiederzugeben.

Bildunterschrift:
Joseph Sima, Roger-Gilbert Lecomte dit Roger Gilbert-Lecomte, 1929. Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm. Reims, Musée des Beaux-Arts. Don Joseph Sima avec le concours de Société des Amis des Arts et des Musées de Reims, 1963. © 2024, ProLitteris, Zurich

6

Germaine Dulac, "La Coquille et le Clergyman", 1927

Comment

Die Handlung dieses Films beruht auf einem Drehbuch von Antonin Artaud und kennt keinen chronologischen Ablauf. Zentrales Thema ist das Verlangen eines Geistlichen nach einer Frau, die abwechselnd auftritt und verschwindet, oft begleitet von ihrem Geliebten, einem Offizier, der zugleich Zensor und Kastrator ist. Viele Einstellungen werden mit Überlagerungen oder Doppelbelichtungen realisiert, die an surrealistische Collagen erinnern. Diese Erkundung der visuellen Möglichkeiten mittels Bildausschnitten, Bewegungen und Schattenspielen will die Tiefen der Psyche und die unterschiedliche Dynamik von Verlangen, Ordnung, Verbot, Sakralität und Verdrängung auf die Leinwand übertragen.

Bildunterschrift:
Germaine Dulac, La Coquille et le Clergyman (Die Muschel und der Geistliche), 1927. 35 mm Film, auf HD übertragen, schwarz-weiß, stumm, 40 min. Courtesy Light Cone (Paris)

7

Lise Deharme et Claude Cahun, "Le Cœur de Pic", 1937

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Im Jahr 1937 arbeiten Lise Deharme und Claude Cahun gemeinsam an einem Kinderbuch, in dessen Mittelpunkt eine Figur namens Pic steht. Der Titel spielt auf die «Dame de Pique» an, Deharmes Spitzname in der Surrealistengruppe. Während sie in dieser hybriden Sammlung eine Reihe von Gedichten über die Blumenwelt und das Tierreich in Art eines Zaubermärchens zusammenstellt, konstruiert Cahun fotografische Miniaturdekorationen, in denen sketchartig Spielzeug, Lebensmittel, Pflanzen und Haushaltsobjekte zu Märchenfiguren werden. Der vierhändig verfasste Band Le Cœur de Pic ist charakteristisch für ein surrealistisches Buch, das Literatur und bildende Kunst verbindet.

Bildunterschrift:
Claude Cahun, Lise Deharme, Le Coeur de pic (Das Spechtherz), 1937. Paris: José Corti, 26,8 x 20,6 cm. Chancellerie des Universités de Paris – Literaturbibliothek Jacques Doucet

8

Man Ray, "L'écriture automatique ou Séance de rêve éveillé", 1924 (1988)

Comment

Inmitten einer Versammlung von Männern im Bureau de recherches surréalistes in der Rue de Grenelle in Paris sitzt Simone Breton an ihrer Schreibmaschine. Als einzige Frau der Gruppe spielt sie die Rolle der Schreibkraft, die einen der «Rêves éveillés» (Tagträume) von Robert Desnos aufzeichnet. Diese Aufzeichnung entbehrt natürlich jeder Spontaneität, und Man Rays Inszenierung wird zum Schauplatz einer doppelten Performance.

Bildunterschrift:
Man Ray, L’écriture automatique ou Séance de rêve éveillé, 1924. Gelatine-Silberbromid-Papierabzug aus dem Jahr 1988, 20,6 x 28,6 cm. Sammlung Foto Elysée. © Man Ray 2015 Trust / 2024, ProLitteris, Zürich

9

Dessins communiqués

Comment

Das Prinzip der «Dessins communiqués» ist eine Variante des «Cadavre exquis». Der oder die erste Teilnehmende fertigt eine Zeichnung an, die dann verdeckt wird, sodass sie die nachfolgende Person aus dem Gedächtnis wiedergeben muss. Je höher die Zahl der Teilnehmenden ist, desto weiter ist die letzte Zeichnung von der ursprünglichen entfernt. In der sukzessiven Umänderung des Bildes treten Elemente des Absurden in Erscheinung.

Bildunterschrift:
Flora Acker, Anonym, Kurt Seligmann, André Breton, Esteban Frances, Benjamin Péret, Remedios Varo und Anonym, Dessins Communiqués, Ca 1937-39, Bleistift auf Papier, 40 X 69 cm, Galerie 1900-2000, Paris

10

Cadavre exquis

Comment

Der 1925 von den Surrealisten erfundene «Cadavre exquis» wird von André Breton im Dictionnaire abrégé du Surréalisme (1938) wie folgt definiert: «Spiel mit gefaltetem Papier, um einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann.» Das Beispiel, das diesem Spiel seinen Namen gab, besteht aus dem ersten so entstandenen Satz: «Le cadavre exquis boira le vin nouveau» (Die köstliche Leiche wird den neuen Wein trinken). Der «Cadavre exquis» zeugt von der Vorliebe der Surrealisten für Zufall und Seltsamkeiten und hat etwas von einem Gesellschaftsspiel, aber auch von Magie an sich.

11

Gisèle und Mario Prassinos

Comment

Gisèle Prassinos, Tochter einer griechischen Familie in Konstantinopel, zieht 1922 nach Frankreich. Ihr Bruder Mario macht die Surrealisten mit den Texten seiner erst 14-jährigen Schwester bekannt. Diese sind nach dem Verfahren der «Écriture automatique» (automatisches Schreiben) verfasst und stellen die Gewalt und Grausamkeit der Kindheit dar. André Breton ist begeistert und veröffentlicht ihre Gedichte in den Zeitschriften Minotaure und Documents 34.

La sauterelle arthritique erscheint 1935 mit einem Vorwort von Paul Eluard und einer Fotografie von Man Ray. Gisèle Prassinos distanziert sich allerdings von dieser Episode: «Sie schüchterten mich ein und behandelten mich ein wenig wie ein Objekt. […] Wenn ich mich recht erinnere, sprachen sie nicht einmal direkt mit mir wie mit einer vollwertigen Person. […] Sie stellten mich zwar nicht zur Schau, doch ich bestätigte ihre Theorie. Ich war ein Beweis, dass das Unterbewusstsein existiert und dass es funktionieren kann.»

Gisèle Prassinos fertigt auch zahlreiche Zeichnungen an. Mit ihrem Bruder, der eine Karriere als Maler einschlägt, findet ein ständiger künstlerischer Austausch statt. Die beiden erfinden sogar eine fiktive Sprache, das «Claude», in dem sie sich bei wichtigen Ereignissen austauschen.

12

Rachel Baes, "Le Jardin de Rubens", 1947

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Die autodidaktische Malerin Rachel Baes ist eine einzigartige Figur des belgischen Surrealismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Darstellung von Mädchen in unheimlichen Umgebungen zu ihrem Lieblingsthema. Die nächtliche Szene, die einen Moment der Grausamkeit darstellt, wie das bei Kindern manchmal geschehen kann, findet in einer stilisierten Wiedergabe des Gartens des Malers Peter Paul Rubens in Antwerpen statt. Der Einfluss der altniederländischen Malerei ist in Baes’ Werk häufig zu spüren, insbesondere in der Behandlung der Kleider mit ihren tiefen Falten.

Bildunterschrift:
Rachel Baes, Le Jardin de Rubens, 1947.  Öl auf Leinwand, 100 x 81 cm. © Privatsammlung, Ecaussinnes

13

Gladys Hynes, "Penny for the Guy – the thought that all war is caused by the faceless money men of the City", 1940

Comment

Gladys Hynes ist bereits eine anerkannte Künstlerin, als der Surrealismus in England an Bekanntheit gewinnt. Als engagierte pazifistische Feministin behandelt sie in ihrem Werk einige der umstrittensten Themen ihrer Zeit. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs prangert sie die Übel des Kapitalismus und der Militärindustrie an, wie der Untertitel des Werks andeutet. Der Mann, der, in eine Militärjacke gekleidet, rittlings auf einer Kanone sitzt und einer Puppe gleicht, spielt auf Guy Fawkes an, dessen gescheiterte Verschwörung gegen das englische Parlament im 16. Jahrhundert jedes Jahr mit Freudenfeuern gefeiert wird. Bei Einbruch der Dunkelheit bitten die Kinder die Vorübergehenden um «A penny for the guy», bevor sie die Puppe verbrennen.

Bildunterschrift:
Gladys Hynes, Penny for the Guy – the thought that all war is caused by the faceless money men of the City, 1940. Öl auf Leinwand, 66 x 43 cm. RAW Collection

14

Victor Brauner, "Étude pour Hélène Smith, une des douze figures du Jeu de Marseille", 1941

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Victor Brauner,

Von den vielen Werken, die in der Villa Air-Bel entstehen, ist das markanteste zweifellos das «Jeu de Marseille» – eine Anspielung auf die berühmten «Tarots de Marseille», die André Breton damals studiert. Das Los entscheidet über die Gestaltung der verschiedenen Karten. Victor Brauner entwirft Karten, die dem deutschen Philosophen Hegel und dem Genfer Medium Elise Müller (1861–1929) gewidmet sind. Letztere wird als «Sirene der Erkenntnis» dargestellt. Durch die Arbeiten des Psychologen Théodore Flournoy unter dem Namen Hélène Smith bekannt geworden, weckt sie in den 1920er-Jahren das Interesse der Surrealisten. Breton lässt sich 1928 von ihr für die Heldin von Nadja inspirieren.

Bildunterschrift:
Victor Brauner, Etude pour Helene Smith, une des douze figures du Jeu de Marseille, 1941. Feder und schwarze Tusche, Pinsel und Aquarell auf Papier, 17,6 x 21 cm. Museum für moderne und zeitgenössische Kunst von Saint-Etienne Métropole. © 2024, ProLitteris, Zurich

15

Leonor Fini, "L’Argonaute", 1936

Comment

Leonor Fini,

Lange Beine, schmale Taille und üppiges Haar: dieses idealisierte Selbstporträt der Künstlerin entgeht nicht den weiblichen Stereotypen. Leonor Finis Bestreben, ihr Bild mit jenem fantastischer Figuren zu kombinieren, ist jedoch auch eine Weise, sich deren Macht anzueignen. In der griechischen Mythologie begleiten die Argonauten Jason auf seiner Suche nach dem Goldenen Vliess. Die einzige Frau auf dem Boot ist Atalante, die sich weigert zu heiraten, um Abenteuer zu erleben. In einem Stil, den Jean Cocteau als «irrealen Realismus» bezeichnet, erneuert die Künstlerin hier eine Form der Heldendarstellung.

Bildunterschrift:
Leonor Fini, L’Argonaute, 1936. Öl auf Leinwand, 65 x 42 cm. Kunstmuseum Wallis, Sitten. © 2024, ProLitteris, Zurich

16

Claude Cahun, "I am in training, don’t kiss me", c. 1927

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«Neutrum ist das einzige Genus, das mir stets zusagt», schreibt Claude Cahun in Aveux non avenus (1930) und setzt sich damit von der grossen Mehrheit der surrealistischen Künstler und Schriftsteller ab. Ihre Selbstporträts, die sie mit ihrer Partnerin Marcel Moore schafft, verwischen oft die Grenzen zwischen den Geschlechtern. Die männlichen Stereotypen, auf die sich Cahun stützt, spielen eher auf den homosexuellen Dandy des späten 19. Jahrhunderts an, wie in diesem berühmten Bild, das sie mit Hanteln zeigt. Geschminkt und verkleidet treibt sie ein Versteckspiel mit ihrem eigenen Image, das von einer komplexen, sich ständig wandelnden Subjektivität zeugt.

Bildunterschrift:
Claude Cahun, I am in training, don’t kiss me [Ich trainiere, küss mich nicht], um 1927. Silberner Ausstellungsabzug, 23,7 x 18,3 cm. Kunstmuseum Nantes

17

Marion Adnams, "Medusa Grown Old", 1947

Comment

Marion Adnams,

Marion Adnams, die in Mittelengland lebt, fertigt zahlreiche Zeichnungen von Naturobjekten an, die sie auf ihren Spaziergängen findet, um sie dann in ihre Gemälde zu integrieren. Sobald die Gegenstände den Massstab wechseln, erwachen sie zu einem geheimnisvollen surrealistischen Leben. Die Künstlerin beschreibt diese Verwandlung als Wiederauferstehung toter und lebloser Objekte. 1947 leiht sie sich aus dem Stadtmuseum eine kleine afrikanische Skulptur aus, um sie genauer zu studieren. «Eines Tages schuf ich von ihr eine Zeichnung und liess diese nach ihrer Fertigstellung neben meinem Stuhl auf den Boden fallen. Zufällig landete sie auf einer am Tag zuvor angefertigten Zeichnung – dem Bild einer alten englischen Eiche mit verdrehten, knorrigen Ästen. Diese umrahmten den Kopf der afrikanischen Figur, und da war sie: Medusa mit dem Schlangenhaar.»

Bildunterschrift:
Marion Adnams, Medusa Grown Old [Medusa hat gealtert], 1947. Öl auf Leinwand, 55 x 39,5 cm. RAW Collection

18

Marie Vassilieff, "Poupées", 1938

Comment

Marie Vassilieff,

Marie Vassilieff, eine der Hauptfiguren der Pariser Avantgarde, beginnt Ende der 1910er-Jahre Puppen nach dem Bildnis ihrer Bekannten anzufertigen. Diese symbolträchtigen «Porträtpuppen», welche die Grenze zwischen Kunst und Kunsthandwerk verwischen, sind von der russischen Volkskunst inspiriert. Während einige naturalistisch geprägt sind, zeugen die hier um ein Baby angeordneten Puppen von der Anziehungskraft der Objekte einer einfachen Kunst auf moderne Menschen, die sie aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslösen und für ihre Arbeiten verwenden. Die Komposition zeigt die Vorliebe der Künstlerin, die auch Theaterdekorationen herstellt, für Inszenierungen.

Bildunterschrift:
Marie Vassilieff, Poupées, 1938. Öl auf Leinwand,85 x 54 cm. RAW Collection

19

René Magritte, "Mouvement perpétuel", 1935

Comment

René Magritte,

Im Jahr 1926 gründet René Magritte mit Paul Nougé (1895–1967) den belgischen Surrealismus mit einer «szientistisch» ausgerichteten Kunst, die im Dienst des Denkens steht. In Mouvement perpétuel erweitert er das für seinen Stil charakteristische intellektuelle Wahrnehmungsspiel auf die volkstümliche Bilderwelt des Zirkus. In einer zugleich absurden und ironischen Geste hebt der Jahrmarkts-Kraftprotz eine Hantel empor, deren eine Kugel sein eigener Kopf ist. Chiricos metaphysischer Einfluss macht einem Trompe-l’œil-Spiel Platz, das auf der sorgfältigen Beobachtung der Realität beruht. Indem der Künstler die Illusion an ihr Limit treibt, schafft er Sinnverschiebungen, die seine rätselhafte Welt kennzeichnen.

Bildunterschrift:
René Magritte, Mouvement perpétuel, 1935.
Öl auf Leinwand, 54 x 73 cm. Esther Grether Family Collection. © 2024, ProLitteris, Zurich

20

Ithell Colquhoun, "La Cathédrale Engloutie", 1950

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Ithell Colquhoun,

Inspiriert von alten keltischen Glaubensvorstellungen, stellt Ithell Colquhoun oft die megalithischen Stätten in Cornwall oder der Bretagne dar in der Annahme, dass ihre Erbauer sie an Orten mit magischen Kräften errichtet haben. So ist La cathédrale engloutie von den Steinkreisen auf dem Inselchen Er Lannic im Golf von Morbihan inspiriert, von denen ein Teil je nach den Gezeiten unter Wasser liegt. Laut Colquhoun war «die tägliche Überflutung dieses den Mächten des Meers und der Erde geweihten Tempels vielleicht von seinen Erbauern beabsichtigt.» Der Titel des Werks, Die versunkene Kathedrale, bezieht sich auf ein von einer bretonischen Legende angeregtes Musikstück von Claude Debussy.

Bildunterschrift:
Ithell Colquhoun, La Cathédrale Engloutie, 1950. Öl auf Leinwand, 130,1 x 194,8 cm. RAW collection

21

Salvador Dalí, "Cygnes reflétant des éléphants", 1937

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Salvador Dalí,

Beeinflusst von der Freudschen Psychoanalyse, entwickelt Salvador Dalí eine Schaffensweise, die auf «kritischer Paranoia» beruht und es ihm ermöglicht, seinen wahnhaften Assoziationen eine Richtung zu geben. Sein symbolträchtiges Werk Schwäne spiegeln Elefanten ist als Doppelbild gestaltet, das Schwan und Elefant miteinander verschmelzen lässt. Abgesehen von der optischen Täuschung, spielt der katalanische Maler mit den Gegensätzen zwischen der Anmut des Schwans und dem Gewicht des Elefanten sowie zwischen der Ruhe des Wassers und dem zerklüfteten Charakter der Umgebung. Das Thema der verzerrenden Spiegelung und die damit verbundene Infragestellung der rationalen Wahrnehmung finden sich in vielen surrealistischen Werken.

Bildunterschrift:
Salvador Dalí, Cygnes reflétant des éléphants, 1937. Öl auf Leinwand, 51 x 77 cm. Esther Grether Family Collection. . © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí / 2024, ProLitteris, Zurich

22

Jane Graverol, "L’école de la vanité", 1967

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Jane Graverol,

Engel, Phönixe und andere geflügelte Geschöpfe tauchen bereits früh in den Bildern von Jane Graverol auf, werden jedoch in den 1960er-Jahren, als die Künstlerin mit Collagen zu experimentieren beginnt, zu ständig wiederkehrenden Elementen. Die Sphinx in L’École de la vanité (1967) treibt die Mehrdeutigkeit der Mythologie auf die Spitze und zeugt von einer monströsen Weiblichkeit, die sich allerdings ihrer eigenen Sinnlichkeit bewusst ist. Obwohl ihre Eingeweide ein Maschinengewirr bilden, ist ihr Gesicht so zart und verführerisch wie die Blume, die sie zwischen ihren Tatzen hält. Die Metamorphose in ein Hybridwesen lässt das Bild einer weiblichen Figur entstehen, die ihr eigenes Schicksal schmieden kann, indem sie ihre Körperteile in Waffen der sozialen Emanzipation verwandelt.

Bildunterschrift:
Jane Graverol, L’école de la vanité, 1967. Öl und Collage auf Karton, 62 x 98 cm. Collection Boschmans. © 2024, ProLitteris, Zurich

23

Leonora Carrington, "Cœur d’Amour Épris", 1960

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Leonora Carrington,

Die Schriftstellerin und Malerin Leonora Carrington hegt schon als Kind eine Leidenschaft für fantastische Literatur, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Cœur d’Amour Épris ist der Titel eines allegorischen Ritterromans, den Herzog René von Anjou im 15. Jahrhundert verfasste. Diese Szene einer Liebesbegegnung – oder Liebeskonfrontation – von fast sakraler Dimension ist von alchemistischen (Grün als Farbe des Ausgleichs) und astrologischen (Rot-Orange, das mit Mars und mit dem Sternzeichen Widder, das heisst jenem der Künstlerin, assoziiert wird) Referenzen geprägt. Das Format und der narrative Charakter des Gemäldes erinnern an die Predellen italienischer Altarbilder, die Carrington als Jugendliche bei einem Aufenthalt in Florenz entdeckt hat.

Bildunterschrift:
Leonora Carrington, Coeur d’Amour Épris, 1960. Öl auf Leinwand, 27 × 93 cm. Catherine Petitgas collection. © 2024, ProLitteris, Zurich

24

Maya Deren, "The Witch’s cradle", 1943

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Dieser unvollendete Film, der in der Galerie von Peggy Guggenheim in New York gedreht wurde, folgt der Schauspielerin Pajorita Matta, die in Sequenzen ohne narrativen Zusammenhang ein Ritual nach dem anderen absolviert. In einigen Einstellungen trägt sie auf der Stirn ein Pentagramm, das von den Wörtern «the end is the beginning is the …» umrahmt wird. Dieses okkulte sternförmige Symbol spielt auf eine Kreisvorstellung der Zeit an, die wie der Film selbst weder Anfang noch Ende kennt. Die Kamera wechselt rasch von einer Nahaufnahme der Nase und der Lippen der Schauspielerin zu einem Mann, dargestellt von Marcel Duchamp, dessen Finger sich mit einem Fadenspiel vergnügen, und dann zu einem schlagenden Herzen, das plötzlich den eigenen inneren Rhythmus bewusst werden lässt.

Bildunterschrift:
Maya Deren, The Witch’s Cradle [Die Wiege der Hexe], 1943. 16-mm-Film, übertragen auf digitale HD-Medien, Schwarzweiß, Ton, 12 Min. 30 Sek. Courtesy of the estate of Maya Deren and The New American Cinema Group / Film-Makers‘ Cooperative.

25

Friedrich Schröder-Sonnenstern, "Die Dreidimensionale Beförderung auuer Mondbewohner", 1954

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Friedrich Schröder-Sonnenstern,

Friedrich Schröder-Sonnenstern verbringt als Jugendlicher wegen seines gewalttätigen Verhaltens Aufenthalte in Erziehungsanstalten und Nervenkliniken, die seinen Hass gegen Autoritäten begründen. Nach dem Krieg ist er in Berlin als Astrologe und Magnetiseur tätig, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach einer Internierung wegen Diebstahls diagnostizieren die Ärzte bei ihm eine vorzeitige Demenz. In der Folge beginnt er zu malen und zu zeichnen. Seine fantastischen Figuren, bunte Karikaturen in oft akrobatischen Positionen, bilden eine persönliche, sexuell aufgeladene Mythologie. Das Gefühl sadistischer Subversion, das sein Werk kennzeichnet, begeistert die Surrealisten, die ihn 1959 zur Teilnahme an der «Exposition internationale du surréalisme» einladen.

Bildunterschrift:
Friedrich Schröder-Sonnenstern, Die dreidimensionale Beförderung auuer Mondbewohner, 1954. Buntstift auf Papier, 51 x 73 cm. Collection de l’Art Brut, Lausanne. © 2024, ProLitteris, Zurich

26

Victor Brauner, "Ville médiumnique", 1930

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 Victor Brauner,

Das Verhältnis Victor Brauners zum Kosmos beruht auf einer prophetischen Erfahrung, die für ihn zum Prinzip wird, das sein Leben und sein Schaffen bestimmt. Ein seltsamer Unfall im Jahr 1938 verleiht ihm einen besonderen Platz, der beispielhaft ist für die Verbindung des Surrealismus mit dem Spiritismus: Infolge einer Schlägerei verliert er sein linkes Auge. Vor diesem nicht alltäglichen Ereignis malte er vorausahnende Bilder über das Thema des verlorenen Auges. Wahrsagerei und Prophezeiung erweisen sich als zentral für den Schaffensprozess Brauners, der das symbolische und formale Vokabular alter Kulturen häufig in seine Werke integriert. Hier verwandeln sich die Gebäude der schlafenden Stadt in Totems.

Bildunterschrift:
Victor Brauner, Ville mediumnique, 1930. Öl auf Leinwand, 72,7 x 91 cm. Museum für moderne und zeitgenössische Kunst von Saint-Etienne Métropole. © 2024, ProLitteris, Zurich

27

Max Ernst, "Moonmad", 1944

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Diese Skulptur spielt auf die besonderen Kräfte des Monds an. Max Ernst nutzt die Wege des Kosmos, um zum Unterbewusstsein vorzustossen. Im Sommer 1944 mietet er zusammen mit Dorothea Tanning und dem Kunsthändler und Sammler Julien Levy ein Haus auf Long Island unweit von New York. Dort fertigt er das Gipsmodell von Moonmad an. Später erinnert sich Levy, dass er half, das Werk auf einem Feld aufzustellen, damit Ernst es im Licht des Vollmonds betrachten konnte. Ein grosses Bronzemodell befindet sich im Garten des Hauses.

Bildunterschrift:
Max Ernst, Moonmad [Mondnarr], 1944. Bronze, 92,6 x 32,1 x 29,8 cm. Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Beyeler Collection. © 2024, ProLitteris, Zurich

28

Max Ernst, "Epiphanie (Dream Landscape)", 1940

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Max Ernst,

Indem Max Ernst das Zufallsmotiv der Rorschach-Flecken, die durch das Pressen einer glatten Oberfläche wie Glas gegen verdünnte Ölfarbe entstehen, zum Ausgangspunkt nimmt, gewinnt er dank der Technik der Décalcomanie (Abklatschverfahren) eine neue Erfindungsfreiheit. Diese mystisch wirkende Waldlandschaft wird von einem hellen Mond und einem grünen Himmel beherrscht, der ihr ein unwirkliches Aussehen gibt. Die Natur scheint sich zu beleben. Mysteriöse, mythologisch anmutende Geschöpfe mit beobachtendem Blick tauchen aus den durch Décalcomanie gewonnenen Pflanzenformen auf und scheinen zu erwachen, um ihre Geheimnisse mit einem umherirrenden Mann zu teilen, der auf eine Offenbarung wartet. Dieses düstere Bild ist eines der letzten, die Max Ernst in Europa malt, bevor er 1941 in die Vereinigten Staaten emigriert.

Bildunterschrift:
Max Ernst, Epiphanie (Dream Landscape) [Epiphanie (Traumlandschaft)], 1940. Öl auf Leinwand, 54 x 64 cm. Esther Grether Family Collection. © 2024, ProLitteris, Zurich

29

Kurt Seligmann, "The Cabalist / The Golem", 1942

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Kurt Seligmann,

Kurt Seligmann ist bekannt für seine Illustrationen mittelalterlicher Troubadoure, deren fantastische und makabre Rituale von der Fasnacht seiner Heimatstadt Basel inspiriert sind. Sein druckgrafisches Werk lässt die Erarbeitung eines symbolischen Vokabulars erkennen, das von einem gewissen Anachronismus geprägt ist. Dies schliesst jedoch eine eher politische Lesart nicht aus. Dieses Blatt, das eine seltsame metamorphe Figur aus gehäuteten und bandagierten anatomischen Teilen zeigt, eine leise Anspielung auf den Golem der jüdischen Mystik, ist zuerst in View erschienen, einer amerikanischen Kulturzeitschrift, die den Surrealismus in den Vereinigten Staaten bekannt macht. Die Reproduktion begleitet einen Artikel über den «Wahnsinn» des britischen Stoizismus angesichts der deutschen Luftangriffe.

Bildunterschrift:
Kurt Seligmann, The Cabalist / The Golem [Der Kabbalist / Der Golem], 1942. Radierung auf Velin. Umbria Italia, 29,4 x 21,1 cm. MAH Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève, Kauf, 1980. © Orange County Citizens Foundation / 2024, ProLitteris, Zurich

30

Kurt Seligmann, "Die zweite Hand von Nosferatu", 1938

Comment

Kurt Seligmann,

Kurt Seligmann, ein Maler schweizerischer Herkunft, nimmt ab 1934 an den Treffen der Surrealistengruppe in Paris teil. Er interessiert sich für okkulte Wissenschaften und Ethnografie, insbesondere für die Totems der indianischen Kultur der Tsimshian. Dieses Gemälde beruht somit auf vielfältigen Einflüssen. Indem er die mutierte Kreatur in der Mitte des Bildraums zu einem wahrhaft surrealistischen Tier macht, hofft er, dessen totemistische Substanz freizusetzen. Das Motiv der vierfingrigen Kralle taucht immer wieder in Isidore Ducasses grausamem Werk Les Chants de Maldoror (1869) auf, in dessen Mittelpunkt eine nihilistische, bösartige Figur steht. Der Titel bezieht sich zudem direkt auf den Film Nosferatu (1922) des deutschen expressionistischen Filmregisseurs F. W. Murnau, der bei den Surrealisten Kultstatus geniesst.

Bildunterschrift:
Kurt Seligmann, Die zweite Hand von Nosferatu, 1938. Öl auf Sperrholz, 85,5 x 125 cm. Aargauer Kunsthaus Aarau / Depositum der Gottfried-Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern. © Orange County Citizens Foundation / 2024, ProLitteris, Zurich

31

André Breton, "Thème astrologique de Benjamin Péret", 1926-1930

Comment

André Breton,

Das Bestreben, alle Formen der intuitiven Erkenntnis zu erforschen, führt dazu, dass sich die Surrealisten auch für die Astrologie interessieren, die sich als heterodoxe Weise aufdrängt, den Rätseln der Welt näher zu kommen. In den Jahren nach seiner Lettre aux Voyantes (1925) erstellt André Breton astrologische Diagramme für zahlreiche Gruppenmitglieder, unter ihnen der Dichter Benjamin Péret, aber auch historische Leitfiguren der Bewegung wie Rimbaud oder Lautréamont. Die Erstellung dieser Horoskope und die Berechnung der Diagramme von Hand erfordern technisches Geschick, was die Ernsthaftigkeit belegt, mit der sich Breton dem astrologischen Studium widmet.

Bildunterschrift:
André Breton, Thème astrologique de Benjamin Péret, 1926-1930 (?). Schwarze, rote und grüne Tinte, Graphit auf dünnem Papier, 22,4 x 27,9 cm. Stadt Nantes – Stadtbibliothek. © 2024, ProLitteris, Zurich

32

Revue VVV

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André Breton sucht die surrealistische Gemeinschaft im New Yorker Exil um eine neue Zeitschrift zu vereinen. Der Titel VVV ist eine Anspielung auf die Wörter «Victory», «View» und «Veil» aus einem seiner Texte: «Victory over the forces of regression, View around us, View inside us […] the myth in process of formation beneath the Veil of happenings» («Sieg über die Kräfte des Rückschritts, Blick um uns herum, Blick in uns hinein […] der Mythos im Entstehungsprozess unter dem Schleier von Geschehnissen»). Die Verbreitung der surrealistischen Ideen in den vier Ausgaben der Zeitschrift findet grosses Echo bei der jungen Generation amerikanischer Künstler, insbesondere bei Mark Rothko und Jackson Pollock.

Bildunterschrift:
VVV. Poetry, plastic arts, anthropology, sociology, psychology [VVV. Poésie, arts plastiques, anthropologie, sociologie, psychologie,
Ausgabe 1, Juni 1942]
Ausgabe 1, Juni 1942
Ausgabe 2-3, März 1943
Nummer 4, Februar 1944
Offset, gehefteter Band, Einband aus festem Papier.
MAH Musée d’art et d’histoire, Ville de Genève, Kauf, s.d.

33

Alberto Giacometti, "Projet pour la Chase Manhattan Plaza: Homme qui marche, Femme debout, Tête sur socle", 1959

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Alberto Giacometti, ein Weggefährte des Surrealismus in den frühen 1930er-Jahren, kehrt dieser Bewegung rasch den Rücken, um sich einer vom aufkommenden Existentialismus beeinflussten Figuration anzunähern. Mit Das Spiel ist aus (1931–1932) nimmt er bereits das Ende der Partie vorweg. Die Skulptur, die wie ein mit halbkugelförmigen Vertiefungen ausgestattetes Spielbrett aussieht, gleicht einem Gräberfeld.

Im Jahr 1958 wird Giacometti eingeladen, einen Entwurf für die Plaza der Chase Manhattan Bank in New York einzureichen. Er nutzt den öffentlichen Raum als Spielplatz, um die drei Sujets, die sein Werk seit 1948 beherrschen, in grossem Format zu gestalten: eine stehende Frauenfigur, ein grosser schreitender Mann und ein monumentaler Kopf auf niedrigem Sockel. Das Ensemble bleibt Modell und wird nie ausgeführt.

Bildunterschriften:
Alberto Giacometti, Projet pour la Chase Manhattan Plaza: Homme qui marche, Femme debout, Tête sur socle, 1959. Bronze, 7,1 × 1,8 × 8,5 cm, 10,5 × 4 × 2,5 cm, 6 × 1,3 × 1 cm, éd. 6/6. Leihgabe Private Sammlung, Schweiz. © Succession Alberto Giacometti / 2024, ProLitteris, Zurich

Man Ray, Giacometti. On ne joue plus, 1933. Fotografische Vergrößerung. Paris, Centre Pompidou – Musée national d’art moderne – Centre de création industrielle. © Man Ray 2015 Trust / 2024, ProLitteris, Zurich

34

Sonja Sekula, "Silence", 1951

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Sonja Sekula,

Sonja Sekula, eine der Hauptfiguren der New Yorker Kunstszene, Freundin von John Cage und Merce Cunningham, nimmt 1951 an der legendären 9th Street Show teil, die dem abstrakten Expressionismus zum Durchbruch verhilft. Ihre Malerei, die surrealistische Tropen und geometrische Abstraktion mit der Gestik des Action Painting verbindet, zeugt von einem entscheidenden Übergangsmoment in der amerikanischen Moderne. 1955 sieht sie sich gezwungen, in die Schweiz zurückzukehren, um ihre Schizophrenie behandeln zu lassen. So endet ihre glänzende Karriere, und ihr Beitrag zur Geschichte der Abstraktion gerät bis zu ihrer Wiederentdeckung weitgehend in Vergessenheit. Trotz der Behandlungen nimmt sie sich mit 45 Jahren das Leben.

Bildunterschrift:
Sonja Sekula, Silence, 1951. Öl auf Leinwand, 147 x 101 cm. © Kunsthaus Zürich, Schenkung der Mutter der Künstlerin, 1966

35

Unica Zürn, "Ohne Titel", 1955

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Unica Zürn, die mit der Surrealistengruppe verbunden ist, in der sie nach ihrer Begegnung mit Hans Bellmer in den 1950er-Jahren verkehrt, fällt durch ihr Zeichentalent auf. Mit Tusche gestaltet sie sorgfältig ein fantasmagorisches Bestiarium und stellt in einem Gewirr fliessender Linien ihre Fantasien und morbiden Ängste ungeschminkt zur Schau. Die Literatur ist ein weiteres Mittel, um ihr psychisches Leiden auszudrücken. In L’Homme-Jasmin (1971) erkundet sie mit der kühlen Prägnanz einer klinischen Intelligenz und der Wahrhaftigkeit einer unverfälschten Stimme die Schrecken der Schizophrenie.

Bildunterschrift:
Unica Zürn, Ohne Titel, 1955. Farbstift und Tinte auf Zeichenpapier, 45 x 62 cm. Collection de l’Art Brut, Lausanne

36

Marcel Duchamp, "Rotorelief", 1965

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Schon früh lässt sich Marcel Duchamp von der Darstellung der Bewegung inspirieren. In Anémic Cinéma (1925) – einem experimentellen Film, den er gemeinsam mit Man Ray und Marc Allégret dreht und den sein fiktives Alter Ego Rrose Sélavy, «Expertin für Präzisionsoptik», signiert – verwendet er bereits optische Scheiben. 1935 entwirft er als «visuelle Belustigung» die Rotoreliefs, ein Ensemble aus sechs beidseitig bedruckten Pappscheiben, deren Muster die Titel Corolles, Lanterne chinoise oder Escargot tragen. Auf einen Grammophonteller gelegt, erzeugen die farbigen Scheiben durch ihre Rotation hypnotisierende Höhen- oder Tiefeneffekte.

Bildunterschrift:
Marcel Duchamp, Rotorelief, 1965. Set aus 12 Bildern, Offset-Lithografie auf 6 Kartonscheiben beidseitig; jede Scheibe mit ihrem Titel bedruckt; mit wandmontierter, von Duchamp entworfener Plattenspielereinheit,⌀ 20 cm (jede Scheibe), 37,5 × 37,5 × 12 cm (motorisierte Box), Eds. 88/150. Courtesy Collection Thaddaeus Ropac, Paris – Salzburg. © Association Marcel Duchamp / 2024, ProLitteris, Zurich

37

Marcel Duchamp, "Obligation de Monte Carlo", 1924 / 1938

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Marcel Duchamp,

Im Jahr 1924 interessiert sich Marcel Duchamp für die Funktionsweise der Glücksspiele in den Kasinos von Monaco. Nach einer Zeit der Recherche kündigt er an, er habe eine Strategie für das Roulettespiel entwickelt, dank der er dem Zufall die Stirn bieten kann. Duchamp entwirft und verkauft Obligationen wie die hier gezeigte, damit andere in sein strategisches Spiel «investieren» und letztlich Gewinne erzielen können. Wie so oft bei ihm ist die Grenze zwischen Ernst und Spass schwer zu ziehen. Das Roulette ist mit einer Fotografie von Duchamp selbst verziert, dessen Kopf eingeseift ist. Ein im Hintergrund gedruckter Text, der Fälschungen erschweren soll, besteht aus dem absurden Satz «Moskitos domestic demistock».

Bildunterschrift:
Man Ray, Marcel Duchamp, Obligation de Monte Carlo, 1924/1938. Farblithografie nach einer Originalfotografie von Marcel Duchamp durch Man Ray, enthalten in der Zeitschrift XX e siècle Paris N 4, Winter 1938, 33 x 24 cm. Slg. R. Patt © Association Marcel Duchamp / 2024, ProLitteris, Zurich

38

Marcel Mariën, "Muette et aveugle me voici habillée des pensées que tu me prêtes", c. 1940-1945

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Das Verfahren, Wörter und weibliche Körper zu verknüpfen, prägt das gesamte fotografische Werk von Marcel Mariën, einem Hauptvertreter des belgischen Surrealismus. Die Rückenansicht ist eine Anspielung auf Man Rays berühmte Fotografie Le Violon d’Ingres (1924), auch wenn das intime Interieur und der performative Charakter der Inszenierung im Gegensatz zu dem ausgefeilten Bild des Fotostudios stehen. Die Verwendung des weiblichen Körpers als bildnerisches Werkzeug ist eine Konstante bei den männlichen surrealistischen Kunstschaffenden. Bei Man Ray ist die Frau stumm, während sie hier auf dem Rücken eine Botschaft trägt, die sich direkt an den Betrachter richtet, ihn nach seiner Autoritätsposition fragt und die subjektive Natur der Wahrnehmung betont.

Bildunterschrift:
Marcel Mariën, Muette et aveugle me voici habillé des pensées que tu me prêtes (Stumm und blind bin ich mit den Gedanken bekleidet, die du mir leihst), ca. 1940-1945. Silberfarbener Abzug, 9 x 6 cm. Sammlung der Fédération Wallonie-Bruxelles, in Verwahrung des Musée de la Photographie de Charleroi.

39

Denise Bellon, "Mannequins surréalistes de l’Exposition internationale du surréalisme de 1938"

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Im Jahr 1938 veranstaltet die Surrealistengruppe ihre ambitionierte «Exposition internationale du surréalisme» in der Galerie des Beaux-Arts in Paris. In einem Gang namens «Die schönsten Strassen von Paris» werden sechzehn Schaufensterpuppen unter teils fiktiven Strassennamen präsentiert. Die Fotografin Denise Bellon dokumentiert den Aufbau der Ausstellung. Ihre Porträts der Kunstschaffenden mit deren «Mannequins» zeugen vom spielerischen und improvisierten Charakter dieser surrealistischen Assemblagen.

40

Man Ray, "Barbette", 1926 (1988)

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Man Ray fertigt für Jean Cocteau ein Dutzend Fotografien des Trapezkünstlers Barbette (Vander Clyde, 1898–1973) an. Der androgyne Artist gelangt in den 1920er- und 1930er-Jahren zu grossem Ruhm und tritt im Cirque Medrano, in der Opéra Music-Hall, im Olympia und im Moulin Rouge auf. Dort führt er seine Nummer als Akrobatin auf, bis er am Ende sein Transvestitentum enthüllt. Barbettes stark geschminktes Gesicht, seine Perücke und sein muskulöser Oberkörper suggerieren eine provokante Mischung sexuell differenzierter Attribute. Cocteau, der von ihm fasziniert ist, widmet ihm einen Artikel: «Le numéro Barbette», der 1926 in der Nouvelle revue française mit Abbildungen nach Fotografien von Man Ray erscheint, und lässt den Artisten im Film Le Sang d’un Poète (1930) auftreten.

41

Pierre Molinier, "Le Chaman, Variante", c. 1965

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Pierre Molinier,

Pierre Molinier, Meister der Autoerotik, schafft ein unheimliches Werk, das sogar André Breton schockiert. Ab den 1950er-Jahren malt er halb abstrakte, halb figurative Bilder, die an verrenkte Körper und umschlungene Gliedmassen erinnern. Doch es sind vor allem seine fotografischen Inszenierungen, die Aufsehen erregen. Sein Verfahren besteht darin, dass er sich selbst in unnatürlichem Zustand fotografiert – enthaart, geschminkt, oft mit Wolfsmaske und mit einigen Accessoires bekleidet: Mieder oder Korsett, Handschuhe, Strümpfe und Pumps mit Stöckelabsätzen, manchmal Schleier oder Haarnetz –, um dann Silhouetten oder Körperteile auszuschneiden und in Collagen zu vereinen, die er in abschliessenden Fotografien als Idealbilder seiner selbst festhält.

Bildunterschrift:
Pierre Molinier, Le Chaman, Variante, um 1965. Silberner Abzug aus der Zeit, 17 x 6 cm. Courtesy Galerie Christophe Gaillard. © 2024, ProLitteris, Zurich

42

Hans Bellmer et Paul Eluard, "Les Jeux de la Poupée", 1949

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Hans Bellmer et Paul Eluard,

Hans Bellmers berühmte Puppe, die als Fetisch den Mittelpunkt eines grenzüberschreitenden Werks bildet, hat den Weg für eine Reflexion über körperliche Integrität und sexuelle Identität gebahnt. Zu ihrer Zeit wirkte sie wie eine Bombe, welche die gängigen Kategorien sprengte: Weder Objekt noch Skulptur, ist sie ein polymorphes Organ und ein Instrument, das sich unendlich manipulieren und umgestalten lässt. Neben seiner Zugehörigkeit zum Surrealismus (Paul Eluard widmet Bellmer 1938 vierzehn Gedichte, die 1949 zusammen mit den kolorierten Fotografien in Les Jeux de la Poupée erscheinen) verbindet das seltsame Ding die Sehnsucht nach der Kindheit mit einer von der Literatur de Sades beeinflussten erotischen Fantasie.

Bildunterschrift:
Hans Bellmer et Paul Éluard, Les jeux de la poupée, 1949. Gedrucktes Buch mit 15 Silberdrucken, 25 x 19,5 cm, Aufl. 115/136. Sammlung David und Marcel Fleiss; Galerie 1900-2000, Paris. © 2024, ProLitteris, Zurich

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Irène Zurkinden, "N'allez pas trop vite!", 1935

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Irène Zurkinden,

Irène Zurkinden, die sich in den frühen 1930er-Jahren in Paris aufhält, kommt über ihre Jugendfreundin Meret Oppenheim mit den Surrealisten in Kontakt. Sie bleibt allerdings am Rand der Bewegung und zieht es vor, ihre intime Welt in Porträts und Genreszenen zu gestalten. Während ihre Zeichnungen mit raschen Strichen ein erotisches Unterbewusstsein erforschen, malt sie auch rätselhafte Gemälde, die sie wie ein Rebus komponiert, wobei sie einen grossen Teil der Leinwand frei lässt.

Bildunterschrift:
Irène Zurkinden, N’allez pas trop vite!, 1935. Collage auf Leinwand, 37,5 x 55 cm. Estate Irène Zurkinden, courtesy Galerie Knoell, Basel

Biografien

Marion Admams

Derby (UK) 1898–1995 Derby (UK)

Marion Adnams, die sich zur Lehrerin für moderne Sprachen ausbilden lässt, fertigt 1920 auf einer Europareise eine Reihe von Holzschnitten an, die begeistert aufgenommen werden. Sie sattelt in Derby auf ein Kunststudium um, das sie 1938 mit einem Diplom als Kunstlehrerin abschliesst, bevor sie 1946 die künstlerische Leitung des Derby Training College übernimmt. Ab 1930 entwickelt sie eine Malerei mit starken traumhaften und surrealistischen Akzenten und stellt in lokalen Kunstgalerien, aber auch in angesehenen Institutionen wie dem British Art Centre neben Eileen Agar oder der Modern Art Gallery neben Max Ernst aus. Ihre häufig von existenziellen Nöten zeugenden surrealistischen Bilder zeigen im Freien gefundene Steine, Schmetterlinge, Muscheln und andere Objekte mit biomorphen Formen.

Rachel Baes

Ixelles (BE) 1912–1983 Brügge (BE)

Rachel Baes wird in eine Künstlerfamilie geboren, die sie schon früh ermutigt, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Als Autodidaktin widmet sie sich zunächst der Darstellung von Blumenarrangements, Porträts und Interieurs in einer expressionistischen Manier, die sie später als ihre «Blumenkohlperiode» bezeichnet. In den 1930er-Jahren verbindet sie eine leidenschaftliche Beziehung mit dem flämischen Nationalisten Joris van Severen, dessen brutaler Tod im Jahr 1940 zu einem radikalen Wandel in ihrer Malerei führt. Nun zeigen die meisten ihrer Bilder kleine, unheimlich wirkende Mädchen, eingtaucht in eine geheimnisvolle Welt. Diese neuartige Malerei bringt sie in die Nähe der belgischen und französischen Surrealisten. In Paris freundet sie sich mit Paul Éluard an, der sie 1946 ausstellt, und René Magritte malt nach ihr seine «Shéhérazade». Da Baes jedoch die Einsamkeit ihrer phantasmagorischen Welt dem düsteren Onirismus vorzieht, lehnt sie eine klare Zuordnung zur surrealistischen Gruppe ab.

Hans Bellmer

Kattowitz (DE) 1902–1975 Paris (FR)

Der Maler, Grafiker, Zeichner, Fotograf und Bildhauer Hans Bellmer studiert ab 1923 technisches Zeichnen an der Technischen Hochschule zu Berlin, wo er sich mit George Grosz anfreundet und mit den Berliner Dadaisten verkehrt. 1933 beginnt er die Anfertigung der ersten «Puppe», deren verdrehte, rebellische und erotische Inszenierungen den im folgenden Jahr publizierten Text Die Puppe begleiten. In demselben Jahr erscheinen achtzehn dieser Fotografien ein zweites Mal im sechsten Heft der Zeitschrift Minotaure und markieren so Bellmers Aufnahme in die Surrealistengruppe. Es folgt eine zweite Puppe, deren «Kugelgelenk» und Inszenierungen ihren sexuellen und erotischen Charakter betonen. 1938 verlässt Bellmer Deutschland endgültig und zieht nach Paris, wo er an den internationalen Ausstellungen des Surrealismus teilnimmt. 1939 wird er als deutscher Staatsbürger in Frankreich interniert. 1957 lernt er die Künstlerin Unica Zürn kennen, die seine Lebensgefährtin wird.

Denise Bellon

Paris (FR) 1902–1999 Paris (FR)

Nach einem kurzen Psychologiestudium entdeckt Denise Bellon durch Vermittlung von Jean Boucher, Lehrer an der Pariser Ecole des Beaux-Arts, die Fotografie, bevor sie sich dem Studio von René Zuber anschliesst. Die beiden treten der Agentur Alliance Photo bei, die 1934 von Maria Eisner gegründet wurde. Denise Bellon ist von der surrealistischen Bewegung fasziniert und dokumentiert mehrere Surrealismus-Ausstellungen in den Jahren 1938, 1947, 1949 und 1965. Ihr riesiges Werk umfasst Porträts und dokumentarische Reportagen, die stets den Menschen in den Mittelpunkt stellen, wie ihre Fotografien surrealistischer Künstler neben deren Mannequins belegen. 2001 drehen der Regisseur Chris Marker und Yannick Bellon, die Tochter Denise Bellons, den Dokumentarfilm Le souvenir d’un avenir, eine Hommage an die Fotografin in Form eines Fotoromans, in dem sich Bellons Bilder aneinanderreihen und überlagern.

Victor Brauner

Piatra Neamț (RO) 1903–1966 Paris (FR)

Victor Brauner kommt in Rumänien zur Welt und schliesst sich dem dortigen Surrealistenkreis an. Er reist oft nach Paris und lernt dort Yves Tanguy kennen, der ihn 1933 in die regelmässigen Zusammenkünfte André Bretons und der Surrealistengruppe einführt. 1934 organisiert Breton Brauners erste Ausstellung in Paris, und vier Jahre später lässt sich dieser endgültig in Frankreich nieder. 1938 verliert er ein Auge, als er einen Streit schlichten will. Diesen Verlust hatte er seltsamerweise in früheren Porträts vorweggenommen – eine Voraussage, die den Weg zu einem eher absurden und illuminierten Surrealismus ebnet. Die Entdeckung von Schriften über die Behandlung von Schizophrenie übt einen entscheidenden Einfluss auf ihn aus. Seine Werke bestehen aus Formen der primitiven Kunst, die eine Metamorphose alchemistischer Prägung erfahren. 1948 wird er aus der surrealistischen Bewegung ausgeschlossen. Im Jahr 1966 erfährt er, dass er ausgewählt wurde, um Frankreich an der Biennale von Venedig zu vertreten.

André Breton

Tinchebray (FR) 1896–1966 Paris (FR)

In seiner Jugend verkehrt André Breton mit den Symbolisten Paul Valéry, Guillaume Apollinaire und Pierre Reverdy und begeistert sich für Anarchismus und Sozialismus. Seine erste von Mallarmé inspirierte Gedichtsammlung publiziert er 1919, nachdem er während des Krieges im Sanitätsdienst gearbeitet und die Freudsche Psychoanalyse entdeckt hat, die ihn tief beeindruckt. Das gemeinsam mit Philippe Soupault 1919 verfasste Werk Les Champs magnétiques kündigt den Surrealismus an, der im ersten Manifest des Surrealismus 1924 ausgerufen wird. Fünf Jahre später folgen das Zweite Manifest des Surrealismus und 1943 die Prolegomena zu einem Dritten Manifest des Surrealismus. Am stärksten von seiner surrealistischen Weltanschauung zeugen seine Zeitschriften wie La Révolution surréaliste, Le Surréalisme au service de la révolution und VVV, die er während seines Exils in New York mitgegründet hat.

Claude Cahun

Nantes (FR) 1894–1954 Saint-Hélier (FR)

Claude Cahun, mit bürgerlichem Namen Lucy Schwob, lernt 1909 Suzanne Malherbe, genannt Marcel Moore, ihr «anderes Ich», kennen. Sie veröffentlicht ihre ersten Texte unter ihrem Pseudonym 1914 in der Zeitschrift Mercure de France, bevor sie sich Anfang der 1920er-Jahre in Paris niederlässt. Dort lernt sie André Breton kennen, der ihr den Weg zu einem mit politischem Aktivismus verbundenen künstlerischen und literarischen Abenteuer weist. Die Androgynität ihres selbstgewählten Vornamens lässt eine von ihr geforderte Unbestimmbarkeit erkennen: «Nichts festlegen und den ewigen Karneval erklären». Dieses Spiel findet man auch in den fotografischen Werken der Künstlerin wieder, einer Gemeinschaftsarbeit von Cahun und Moore, das die Duplizität der Subjektivität und die Verdoppelung der Geschlechter und Rollen in komplexen Porträts zusammentreffen lässt. Eine Verdoppelung, die sich im Leben der beiden und in ihren Aktivitäten in der Résistance während des Zweiten Weltkrieges spiegelt.

Nicolas Calas

Lausanne (CH) 1907 –1988 New-York (USA)

Nicolas Calas, mit richtigem Namen Nikos Kalamaris, ist Sohn einer wohlhabenden griechischen Kaufmannsfamilie und erhält während seiner Kindheit in Athen eine frankophile Erziehung. Hier studiert er Jura, bevor er unter dem Namen M. Spieros seine ersten kunst- und politikkritischen Texte publiziert. Seine ersten Gedichte erscheinen 1930 unter dem Namen Nikitas Randos. Ab 1933 begibt er sich häufig nach Paris, wo er in der Kunstszene verkehrt und sich 1937 unter seinem neuen Namen endgültig niederlässt. Sein Engagement für die kommunistischen Sache findet ein Echo in den revolutionären Bestrebungen der Surrealistengruppe, der er als aktives Mitglied angehört. In seiner Essaysammlung Foyers d’incendie, die 1938 erscheint, wird die Kunst als revolutionärer Prozess dargestellt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zieht er von Paris nach New York, wo er seine kritischen und literarischen Aktivitäten fortsetzt.

Leonora Carrington

Clayton Green (UK) 1917–2011 Mexico City (MX)

Leonora Carrington, die in England am Ende der «okkulten Renaissance» geboren wird, studiert Zeichnen und Malerei in London und Florenz, wo sie insbesondere die fantastischen mittelalterlichen Bilder und die Ungeheuer von Hieronymus Bosch entdeckt. 1937 lernt sie Max Ernst kennen und folgt ihm nach Paris, wo sie in der Surrealistengruppe verkehrt. Im folgenden Jahr nimmt sie an der Surrealistenausstellung teil und veröffentlicht ihre erste Erzählung, La Maison de la peur. 1940 flieht sie aus dem besetzten Frankreich nach Spanien, wo sie einen Nervenzusammenbruch erleidet und in ein Sanatorium in Santander eingewiesen wird. Ein traumatisches Ereignis, das sie in ihrer 1945 publizierten Autobiografie En bas verarbeitet. 1941 begibt sie sich nach New York und trifft dort mit Surrealisten im Exil zusammen, bevor sie sich 1943 in Mexico City niederlässt, wo sie insbesondere mit Remedios Varo verkehrt. Hier lernt sie die präkolumbische Kultur kennen, die zur Entwicklung ihres künstlerischen Werks beiträgt.

 

René Clair

Paris (FR) 1898–1981 Neuilly-sur-Seine (FR)

Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er bei den Sanitätern dient, beginnt René Clair unter dem Pseudonym René Desprès eine Karriere als Journalist bei L’Intransigeant und wendet sich dann dem Film zu, wo er als Schauspieler debütiert, bevor er Assistent von Jacques de Baroncelli und später von Henri Diamant-Berger wird. Auf seinen ersten Film Paris qui dort an dem er 1923 zu arbeiten beginnt, folgen 1924 Entr’acte und später viele weitere wichtige Werke der 1930er-Jahre wie Sous les toits de Paris von 1930 oder Fantôme à vendre von 1935. Le silence est d’or aus dem Jahr 1946 zeugt von seiner Rückkehr zum französischen Film nach der Besatzungszeit, in der er es vorzieht, in Hollywood statt unter der Kontrolle der Besatzungsmächte zu arbeiten. Sein literarisches Werk begleitet seine Filmproduktion mit mehreren Essays, Romanen und Erzählungen, darunter der Sammelband Jeux de hasard von 1976.

Ithell Colquhoun

Shillong (IN) 1906–1988 Lamorna (UK)

Ithell Colquhoun wird als Tochter eines englischen Beamten in Britisch-Indien geboren, kurz bevor ihre Familie nach England zurückkehrt. Sie studiert an der Slade School of Art, wo sie sich bereits für esoterische Literatur und okkulte Sekten interessiert. 1931 entdeckt sie den Surrealismus in Paris und bezieht ein Atelier neben jenem von Paule Vézalay. 1936 nimmt sie an der International Exhibition of Surrealism in London teil. 1939 schliesst sie sich der surrealistischen Bewegung an, die sie jedoch ein Jahr später wieder verlässt, da sie sich weigert, ihre okkulten Interessen aufzugeben. Dennoch sind ihre Bilder, die einen mentalen Raum auf der Leinwand zu schaffen suchen, weiterhin von surrealistischen Erkundungen wie dem Automatismus geprägt. Ende der 1940er-Jahre lässt sich Colquhoun in Cornwall nieder, wo sie sich in ihren Schriften weiterhin mit okkultistischen und metaphysischen Sujets beschäftigt.

Salvador Dalí

Figueras (ES) 1904–1989 Figueras (ES)

Salvador Dalí, ein berühmter Vertreter des Surrealismus, wird durch zwei besondere Vorkommnisse geprägt: seine Entdeckung der Schriften von Sigmund Freud und seine Mitgliedschaft in der Surrealistengruppe in Paris. Seine Gemälde, die irrationale Verzerrungen und Metamorphosen in minuziös realistischen Darstellungen zeigen, sind wie seine sonnenfluteten Landschaften, die an seine Heimat Katalonien erinnern, beispielhaft für sein Werk. In den späten 1930er-Jahren wendet er sich einer akademischeren Malerei zu, bevor er aufgrund seiner zweideutigen Haltung gegenüber dem Aufstieg des Faschismus aus der Surrealistengruppe ausgeschlossen wird. Von 1940 bis 1955 lebt er in den Vereinigten Staaten. Religiöse Sujets nehmen zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren einen wichtigen Platz in seinem Werk ein und vermischen sich mit seinen Lieblingsthemen, zu denen erotische Darstellungen, Kindheitserinnerungen oder Sujets gehören, in deren Mittelpunkt seine Frau und Muse Gala steht.

René Daumal

Boulzicourt (FR) 1908–1944 Paris (FR)

René Daumal, Sohn eines Lehrers, scheint sich schon früh einem Hermetismus verschrieben zu haben, der ihn zeitlebens begleitet. Das Wesentliche ist stets anderswo, verborgen in der Dunkelheit. Diese Überzeugung teilt er mit einigen Mitschülern seines Gymnasiums: Roger Gilbert-Lecomte, Roger Meyrat und Roger Vailland. Sie bilden die «phrères simplistes», aus denen die Gruppe «Le Grand Jeu» hervorgeht, und bemühen sich, das intuitive Wissen der Kindheit wiederzufinden. Zudem unternehmen sie eine metaphysische Suche nach einem anderen Bewusstseinszustand und einer durch künstliche Mittel wie Drogen veränderten Wahrnehmung. 1925 lässt sich Daumal in Paris nieder, wo er seine Kenntnisse der mystischen, theosophischen und okkulten Literatur vertieft. In den Jahren nach 1927 publizieren Daumal, Gilbert-Lecomte und Vailland ihre vereinfachenden Theorien in der Zeitschrift Le Grand Jeu, von der zwischen 1928 und 1930 drei Ausgaben erscheinen.

Lise Deharme

Paris (FR) 1898–1980 Neuilly-sur-Seine (FR)

In den 1920er-Jahren lernt Lise Deharme in Paris die Surrealistengruppe kennen. Als Dichterin, Romanautorin, mondäne Salonnière und ab 1933 Leiterin der Zeitschrift Le Phare de Neuilly wird sie für die Surrealisten rasch zur Muse. Für Le Cœur de Pic arbeitet sie mit Claude Cahun zusammen: Das vierhändige Werk erscheint 1936 und wird von Paul Éluard in seinem Vorwort als «Bilderbuch» bezeichnet, welches «das Alter hat, das Sie haben möchten». Indem es das fotografische Bild in den Mittelpunkt stellt, präsentiert es sich ähnlich wie André Bretons Nadja ou l’Amour fou als wahrhaft «surrealistisches Buch», in dem Cahuns fotografische Inszenierungen die Gedichte von Lise Deharme illustrieren.

Maya Deren

Kiew (UKR) 1917–1961 New York (USA)

Maya Deren, Tochter eines russischen Psychoanalytikers jüdischer Herkunft, verlässt kurz nach ihrer Geburt die UdSSR, verbringt ihre Schulzeit in der Schweiz und zieht dann zu ihrer Familie nach New York, wo sie Journalismus und Literatur studiert. 1942 heiratet sie den Avantgarde-Filmregisseur Alexander Hammid (Alexander Hackenschmied), mit dessen experimentellen Werken der 1920er-Jahre sie sich vertraut macht. 1943 dreht das Paar gemeinsam Meshes of the Afternoon, einen Kurzfilm, der als erster moderner amerikanischer Experimentalfilm gilt und die spätere Underground-Strömung vorwegnimmt. Der Film führt die formalen Recherchen der Surrealisten weiter und erkundet zugleich in einer den letzteren unbekannten Weise weibliche Fantasien und sexuelle Identität. Mit ihren Filmen und Schriften bemüht sich Maya Deren zeitlebens, das Kino von verwandten Kunstrichtungen abzugrenzen und dem Experimentalfilm eine eigene Identität zu geben.

Marcel Duchamp

Blainville-Crevon (FR) 1887–1968 Neuilly-sur-Seine (FR)

Als Vorläufer der Konzeptkunst und Erfinder des Ready-made, des ersten surrealistischen Objekts, kultiviert Marcel Duchamp zeitlebens eine Distanziertheit, die jede Zugehörigkeit zu einer Kunstströmung verhindert. Eine ungreifbare Persönlichkeit, die André Breton fasziniert, wie die Studie zu Le Grand Verre (Le phare de la mariée) zeigt, die 1935 im sechsten Heft des Minotaure erscheint. Duchamp wird rasch zum offiziellen «Szenographen» der Surrealistengruppe und gestaltet beispielsweise die denkwürdige Ausstellung von 1938, für die er die Decke mit Kohlesäcken schmückt, die den Raum verdunkeln. Sein andauerndes Spiel mit Abstraktion und erotischer Suche deutet die Verschiebung von einer retinalen zu einer eher konzeptuellen Kunst an. Abstrakte Darstellungen und sinnliche Qualität gehen Hand in Hand, und Sinne und Geist harmonieren wie in seinem Katalogcover Prière de toucher für die surrealistische Ausstellung von 1947 in der Galerie Maeght, für die Duchamp zudem den zentralen Raum gestaltet.

Suzanne Duchamp

Blainville-Crevon (FR) 1889–1963 Neuilly-sur-Seine (FR)

Suzanne Duchamp ist Marcels jüngere Schwester und das vierte Kind einer Familie mit sechs Kindern, von denen vier künstlerisch tätig sind. Sie studiert an der École des Beaux-Arts in Rouen und stellt 1912 zum ersten Mal aus. 1916 lernt sie den Maler Jean Crotti kennen, den sie drei Jahre später heiratet. Dies veranlasst ihren Bruder, ihr Anweisungen für ein «Ready-made-Geschenk» zu geben: Sie soll ein Geometriebuch am Balkon ihrer Wohnung befestigen, sodass der Wind in den Seiten blättert und so Aufgaben auswählt. Von diesem Ansinnen kündet ihr Bild Ready-made malheureux de Marcel Duchamp. Am Eingang des Salon d’Automne 1921 verteilt das Ehepaar Flugblätter mit der Ankündigung der Gründung ihrer Dada-Bewegung namens «TABU». Nach 1927 besteht Suzannes künstlerische Produktion aus Landschaftsbildern und floralen Werken auf Papier, mit denen sie an Ausstellungen in Frankreich und den Vereinigten Staaten teilnimmt.

Marcel Duhamel

Paris (FR) 1900–1977 Saint-Laurent-du-Var (FR)

Marcel Duhamel verbringt in der Picardie eine von Einsamkeit geprägte Kindheit. Mit fünfzehn Jahren schifft er sich illegal nach England ein, wo er Hotelpage wird. Einberufen zum Militärdienst, begibt er sich nach Istanbul, wo er Jacques Prévert und Yves Tanguy kennenlernt – der Beginn einer Freundschaft und der Mitgliedschaft in der Surrealistengruppe. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wird er Hotelmanager und pflegt Umgang mit Prévert, Louis Aragon, Tanguy, Benjamin Péret und Robert Desnos. Sie gründen das Theaterensemble «Octobre» und unternehmen Tourneen nach Moskau, Italien und Nordafrika. Er begegnet dem britischen Autor Peter Cheney und schliesst mit ihm 1945 einen Vertrag für die Edition der «Série noire» ab. Im Laufe von 32 Jahren erscheinen mehr als 1500 von den wichtigsten Krimiautoren verfasste Romane. Parallel dazu setzt Duhamel seine Theatertätigkeiten fort und bearbeitet zahlreiche Stücke.

Germaine Dulac

Amiens (FR) 1882–1942 Paris (FR)

Germaine Dulac ist nicht nur eine Filmpionierin, sondern auch eine der Hauptvertreterinnen des Feminismus im frühen 20 Jahrhundert. Seit ihrer Jugend begeistert sie sich für den Journalismus und verfasst Theaterkritiken, interviewt berühmte Frauen und setzt sich für das Frauenstimmrecht ein. 1904 heiratet sie den Romanautor Albert Dulac. Ihr wachsendes Interesse für den Film veranlasst sie, 1915 eine eigene Produktionsfirma zu gründen und ihren ersten Film, Les Sœurs ennemies, zu drehen. Von der sozialen Bedeutung des Kinos überzeugt, ist sie 1922 Mitbegründerin des Club français du cinéma, dem 1929 die Fédération française des ciné-clubs folgt. Ihr «Cinéma intégral», das mit Unschärfen, Überblendungen und anderen expressiven Verfahren arbeitet, macht sie zu einer Figur des Avantgardekinos. 1927 sorgt ihr Film La Coquille et le Clergyman aufgrund seiner sexuellen und erotischen Konnotationen für einen Aufschrei der Empörung. Das experimentelle Werk gilt als der erste surrealistische Film.

Nusch Éluard

Mulhouse (FR) 1906–1946 Paris (FR)

Als geheimnisvolle Muse, die zahlreiche Kunstwerke der 1930er- und 1940er-Jahre inspiriert, ist Nusch Éluard aufgrund ihrer Zurückhaltung etwas in Vergessenheit geraten. Sie verlässt ihre Heimatregion und lässt sich 1928 in Paris nieder, wo sie als Assistentin einer Hypnotiseurin arbeitet, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. 1930 werden René Char und Paul Éluard in den Strassen von Paris auf sie aufmerksam und führen sie in die surrealistische Bewegung ein. Sie heiratet Éluard vier Jahre später. Von der Gruppe vergöttert, wird sie zur Muse von Pablo Picasso, Man Ray, René Magritte und Joan Miró. Ihr künstlerisches Werk umfasst Collagen und ihre Beiträge zu Gemeinschaftswerken der Surrealisten wie den Cadavres exquis. Ihr plötzlicher Tod im Alter von 40 Jahren aufgrund eines Gehirnschlags ist ein Schock für alle Mitglieder der Surrealistengruppe.

Paul Éluard

Saint-Denis (FR) 1895–1952 Charenton-le-Pont (FR)

Mit 17 Jahren lernt Eugène Paul Grindel eine russische junge Frau kennen, die er Gala nennt. Er legt sich das Pseudonym Paul Éluard zu und heiratet sie 1916. Nach dem Krieg schliesst er sich der Dada-Bewegung an und beteiligt sich an der Gründung des Surrealismus an der Seite seiner Freunde André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault. Nach einigen Jahren der Trennung von Gala heiratet er 1934 Maria Benz, genannt Nusch. Er ist politisch aktiv, tritt 1927 in die Kommunistische Partei ein und geht in die Résistance. Sein Gedicht «Liberté», das von englischen Flugzeugen auf Flugblättern über dem besetzten Frankreich abgeworfen wird, verschafft ihm weltweite Bekanntheit: Éluard wird zum «Dichter der Freiheit». Bis 1952 veröffentlicht er mehr als hundert Sammelwerke mit Gedichten, die oft aus kurzen Versen bestehen und in einfachen Worten Liebe sowie politisches, humanistisches und revolutionäres Engagement verbinden.

Max Ernst

Brühl (DE) 1891–1976 Paris (FR)

Max Ernst wird im Rheinland geboren und studiert in Bonn Philosophie, bevor er sich der Malerei zuwendet. 1919 gründet er mit Johannes Theodor Baargeld und Hans Arp die Kölner Dada-Gruppe und erprobt neue Techniken wie die Frottage und die Décalcomanie. 1921 lernt er André Breton und Paul Éluard in Paris kennen und wird Mitglied der Surrealistengruppe. Nach den 1919 angefertigten Collagereliefs schafft er 1929 seine ersten Skulpturen, Schachfiguren aus Gips. 1939 wird er verhaftet und interniert, kommt jedoch wieder frei und flüchtet 1941 in die Vereinigten Staaten, wo er schlichtere Skulpturen in monumentalen Proportionen gestaltet. Oft stellen sie wie Moonmad von 1944 totemistische Figuren oder Schachfiguren dar.

Leonor Fini

Buenos Aires (ARG) 1907–1996 Paris (FR)

Leonor Fini wird in Argentinien geboren, ist jedoch von der italienischen Kultur in Triest und Mailand geprägt, wo sie aufwächst und studiert. Obwohl sie in Paris und New York mit der Surrealistengruppe verkehrt und 1937 ihre erste Einzelausstellung in der Julien Levy Gallery veranstaltet, weigert sie sich stets, der Gruppe beizutreten. Anfang der 1930er-Jahre trifft sie in Paris durch Vermittlung von Max Ernst mit den Surrealisten zusammen. Mit ihnen teilt sie eine gemeinsame Neigung zu Metamorphosen, Psychoanalyse und der Erforschung der mentalen Welt, befreit sich jedoch von den Dogmen, die André Breton aufstellt. Bis zu ihrem Tod lebt und arbeitet sie in Paris, wo sie vielen Surrealisten wie Leonora Carrington, Victor Brauner und Max Ernst, aber vor allem auch Personen der Theater- und Modewelt wie Elsa Schiaparelli nahesteht. Für Dramen wie Le Roi Pêcheur (1945) von Julien Gracq oder Les Bonnes (1961) von Jean Genet entwirft sie eine Reihe von Bühnenbildern.

Esteban Francés

Portbou (ES) 1913–1976 Deià (ES)

Im Jahr 1925 begibt sich Esteban Francés zum Kunststudium nach Barcelona, wo er Remedios Varo begegnet, durch deren Vermittlung er Paul Éluard und Oscar Dominguez kennenlernt. Der spanische Bürgerkrieg zwingt ihn in den 1930er-Jahren zur Flucht nach Paris, wo er sich der Surrealistengruppe anschliesst und seine astralen Landschaften und biomorphen Formen entwickelt. 1940 verlässt er Europa und zieht nach Mexiko: Dort wird er Zeuge eines Vulkanausbruchs, dessen brennend rote Lava, die sich beim Fliessen verformt und neu zusammensetzt, einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn macht. Er lässt sich dauerhaft in New York nieder, wo er als Bühnen- und Kostümbildner tätig ist und zu einem regelmässigen Mitarbeiter des Choreografen George Balanchine wird. Parallel dazu setzte er sein malerisches Werk fort, das nach und nach immer mehr geometrische Elemente einbezieht.

 

Wilhelm Freddie

Kopenhagen (DK) 1909–1995 Kopenhagen (DK)

Wilhelm Freddie, einer der Hauptvertreter der dänischen Avantgarde, trägt mit seinem 1930 präsentierten Bild Frihed, lighed og broderskab (Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit) dazu bei, den Surrealismus in Skandinavien bekannt zu machen. Fünf Jahre später zieht die Bewegung mit der von André Breton mitgestalteten Ausstellung kubisme=surrealisme in Kopenhagen die Aufmerksamkeit auf sich. In demselben Jahr beginnt Freddie erste Objekte anzufertigen. Seine provozierenden Werke werden mehrfach zensiert und vom europäischen Zoll beschlagnahmt. Desgleichen wird seine Ausstellung Sex-Surreal 1937 wegen Verstosses gegen die öffentliche Moral zensiert, was dem Künstler einen zehntägigen Gefängnisaufenthalt einbringt.

Alberto Giacometti

Stampa (CH) 1901–1966 Chur (CH)

Alberto Giacometti begibt sich 1922 nach Paris, um Bildhauerei zu studieren, nachdem er im Atelier seines Vaters Malunterricht erhalten hat. In seinen frühen Werken zeigt er ein Interesse für afrikanische Statuen, die er in der französischen Hauptstadt entdeckt. Ende der 1920er-Jahre nähert sich sein Werk surrealistischen Recherchen im Zeichen der Freudschen Psychoanalyse an. Von 1931 bis 1935 nimmt er aktiv an den Treffen der Surrealistengruppe teil. In diese Zeit fällt seine erste Einzelausstellung in der Galerie Pierre Colle im Jahr 1932. Zwei Jahre später findet seine Werkschau in der Julien Levy Gallery in New York internationale Anerkennung. 1936 folgt seine Teilnahme an der grossen Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism im MoMA, das einige seiner Werke erwirbt. Sein Ausschluss aus der Bewegung im Jahr 1935 zeugt von seiner Rückkehr zu einer eher figurativen Praxis.

Jane Graverol

Ixelles (BE) 1905–1984 Fontainebleau (FR)

Mit ihrer Teilnahme an den Aktivitäten des Brüsseler Surrealismuskreises in den 1940er-Jahren zeichnet sich Jane Graverol als eine der wenigen Frauen aus, die der Bewegung in der Nachkriegsgeneration beitreten. Sie gründet insbesondere Temps mêlés, eine wichtige Zeitschrift des belgischen Surrealismus mit revolutionärem Charakter, die in ihrer ersten Form bis 1977 erscheint, und organisiert in Verviers Ausstellungen und Debatten, um so einen Beitrag zur surrealistischen Revolution zu leisten. Unter anderen stellt dort René Magritte 1953 aus. Zusammen mit Marcel Mariën und Paul Nougé gründet sie eine weitere wichtige Zeitschrift, Les Lèvres nues, die bis 1975 aufgelegt wird. 1960 begegnet Graverol André Breton, was ihre regelmässigen Kontakte zur Pariser Kunstszene belegt. Inspiriert von der Mythologie und deren weiblichen Figuren schafft die Künstlerin Werke wie L’école de la vanité, ein für sie typisches phantasmagorisches Werk.

Henriette Grindat

Lausanne (CH) 1923–1986 Lausanne (CH)

Im Jahr 1944 beginnt Henriette Grindat an der École de photographie in Lausanne zu studieren. Ihre Lehrzeit absolviert sie in der École suisse in Vevey, bevor sie 1949 als selbstständige Fotografin für zahlreiche Magazine und Zeitschriften tätig wird. Die von ihr mit einer Rolleiflex geschaffenen kraftvollen Aufnahmen werden in der Schweizer Presse publiziert. Beeinflusst vom Surrealismus, der sie fasziniert, experimentiert sie mit Collagen, Solarisation und doppelt belichteten Fotogrammen, in denen sich Natur und Landschaft in seltsame Geschöpfe verwandeln. In den 1950er-Jahren weichen die freien Assoziationen einem subjektiveren Reportagestil. Sie gibt zahlreiche Fotoeditionen heraus wie Postérité du soleil mit einem Vorwort von René Char und einem Text von Albert Camus. Wiederholt arbeitet sie mit den Editions Claire Fontaine und der Guilde du Livre in Lausanne zusammen.

Jacques Hérold

Piatra Neamț (RO) 1910–1987 Paris (FR)

Jacques Hérold, mit bürgerlichem Namen Hérold Blumer, studiert von 1927 bis 1929 an der Kunstakademie in Bukarest. Drei tödliche Unfälle, die er direkt miterlebt, prägen ihn für immer und stellen seine Malerei unter das Zeichen des Écorché. Den Surrealismus entdeckt er in der rumänischen Avantgarde-Zeitschrift Unu, in der er an der Seite von Victor Brauner seine ersten Zeichnungen publiziert. 1929 begibt er sich mit einer gefälschten Identität, die ihm sein neuer Name verschafft, nach Paris. Fünf Jahre später tritt er der Surrealistengruppe bei und beteiligt sich insbesondere an den kollektiven Spielen der Cadavres Exquis. Seine Kunst des Écorché nimmt nun eine neue Wendung und antizipiert zugleich die Schrecken des Krieges. Bei Kriegsausbruch schliesst er sich Breton und den Surrealisten an, die in Marseille auf ihre Ausreise in die Vereinigten Staaten warten, und trägt zum Jeu de Marseille bei. In den 1950er-Jahren wendet er sich einer Malerei zu, die der lyrischen Abstraktion nahesteht.

 

Artür Harfaux

Cambrai (FR) 1906–1995 Paris (FR)

Der Fotograf und Zeichner Artür Harfaux lernt in Cambrai Maurice Henry kennen, der ihn den «phrères simplistes» René Daumal, Roger Vailland und Roger Gilbert-Lecomte vorstellt. Zwischen 1928 und 1930 nimmt er aktiv am Abenteuer des «Grand Jeu» teil und erscheint in allen Inhaltsverzeichnissen der kurzlebigen Zeitschrift mit Beiträgen, die sich auf seine fotografischen Recherchen beziehen. In Paris, wo er sich 1924 niederlässt, löst er sich nach und nach vom «Grand Jeu», bevor er die Gruppe 1932 endgültig verlässt, um sich den Surrealisten anzuschliessen. Von 1939 bis 1951 unternehmen Harfaux und Henry unter dem Namen «Les Gagmen associés» gemeinsame Filmexperimente und wirken als Gagmans oder Drehbuchautoren an etwa zwanzig Filmen mit. Im Jahr 1992 trägt Harfaux insbesondere zur Ausstellung Joseph Sima bei, die im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris stattfindet.

Maurice Henry

Cambrai (FR) 1907–1984 Mailand (IT)

Maurice Henry, aktives Mitglied des «Grand Jeu», ist vor allem für seine Verbreitung der surrealistischen Ideen in der Presse bekannt. In seiner Jugend liest er La Révolution surréaliste und übt sich im automatischen Schreiben und Zeichnen. Er lernt Roger Vailland kennen, der ihn mit Roger Gilbert-Lecomte und René Daumal bekannt macht, die alle vom Surrealismus fasziniert sind. Gemeinsam gründen sie die Gruppe «Le Grand Jeu». Sein Text Le Discours du révolté eröffnet die erste Ausgabe der gleichnamigen Zeitschrift, in der er zudem mehrere Zeichnungen veröffentlicht. Nach der Auflösung des Grand Jeu im Jahr 1933 schliesst er sich den Surrealisten an und nimmt an ihren Ausstellungen teil. Seine Tätigkeit als Journalist ermöglicht ihm eine umfangreiche Berichterstattung über die Aktivitäten der Surrealistengruppe. Daneben ist er als Drehbuchautor, Gagman mit Artür Harfaux, Theaterregisseur, Bühnenbildner, Fotograf sowie Film- und Jazzkritiker tätig.

Georges Hugnet

Paris (FR) 1906–1974 Saint-Martin-de-Ré (FR)

Obwohl er gut platziert ist in Man Rays berühmter Komposition des Surrealistischen Schachbretts von 1934, das die Anführer der surrealistischen Bewegung feiert, wird Georges Hugnet nicht mehr als eine Galionsfigur der Gruppe anerkannt. Die Studien dieses ersten Historikers der Dada-Gruppe erscheinen in den Zeitschriften Cahiers d’Art oder Minotaure. Zudem schafft er zahlreiche Collagen, Gemälde, Décalcomanien und vor allem Gedichte. Dank der Vermittlung von Max Jacob publiziert er 1926 seine erste Sammlung, Quarante poésies de Stanislas Boutemer. 1929 lässt sein Kurzfilm La Perle einen nicht-narrativen Surrealismus erkennen. 1932 tritt er der Surrealistengruppe bei, aus der er 1939 ausgeschlossen wird. Sein Werk La Septième face du dé von 1936 zeugt von seinem poetischen und künstlerischen Talent anhand von zwanzig Scherenschnitt-Gedichten, die Texte und Bilder aus populären Quellen mit erotischen Schriften und Bildern vermischen.

Valentine Hugo

Boulogne-sur-Mer (FR) 1887–1968 Paris (FR)

Valentine Gross beginnt 1907 an der École des beaux-arts in Paris zu studieren und nimmt 1909 zum ersten Mal am Salon des artistes français teil. Ihre Begeisterung für den Tanz, insbesondere die Ballets Russes, und die Mode bringt sie dazu, Kostüme, Verkleidungen, Masken und Bühnenbilder anzufertigen. 1919 heiratet sie Jean Hugo. 1931 wird sie die Geliebte von André Breton und lässt sich im folgenden Jahr scheiden. Ihre Vertrautheit mit der Surrealistengruppe zeigt sich vor allem in ihren Portraits des poètes surréalistes  von 1932 bis 1948. In den 1930er-Jahren schafft sie ihre ersten surrealistischen Objekte und nimmt 1933 an der Exposition surréaliste und der Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism im Museum of Modern Art (MoMA) in New York teil. Ihr unverkennbarer Stil ist durch traumhafte Darstellungen gekennzeichnet, die auf dunklen, mit Lichtern gehöhten Gründen einer naiven Ästhetik huldigen.

Gladys Hynes

Indore (IN) 1888–1958 London (UK)

Gladys Hynes, die in Indien geboren wird, bevor sie mit ihrer Familie nach London zurückkehrt, beginnt 1911 in Nwelyn Malerei zu studieren in einer neuen Schule, die eine vom französischen Naturalismus inspirierte Freiluftmalerei propagiert. In der traditionsreichen, zerklüfteten Landschaft Cornwalls findet sie die Elemente für ihre frühen Werke. Während des Krieges ist sie in London für die Omega Workshops tätig, die der Künstler und Kunstkritiker Roger Fry ins Leben rief, um die von der Arts and Crafts-Bewegung des späten 19. Jahrhunderts angestrebte Rückkehr in die vorindustrielle Welt zu fördern. Hynes setzt sich tatkräftig für verschiedene Anliegen ein, insbesondere für die Suffragetten und den irischen Republikanismus. Ihr künstlerisches Werk, das eng mit den Hauptereignissen des 20. Jahrhunderts in Grossbritannien verknüpft ist, zeugt kraftvoll von ihrem unerschütterlichen Pazifismus.

René Magritte

Lessines (BE) 1898–1967 Brüssel (BE)

Abwegige Assoziationen vertrauter Gegenstände und Massstabwechsel, Perspektiven, Trompe-l’œil und metaphorische Anspielungen voller Humor und erotischer Konnotationen in seinen Werken machen René Magritte zu einer der populärsten Künstler des Surrealismus. Während des Ersten Weltkrieges studiert er an der Académie des Beaux-Arts in Brüssel und arbeitet anschliessend als Grafiker in einer Tapetenfabrik. Anfang der 1920er-Jahre beginnt seine ertragreiche Zusammenarbeit mit den belgischen Surrealisten und später mit der Gruppe in Paris, wo er zwischen 1927 und 1930 lebt. Als vielseitiger Maler kehrt er in den 1940er-Jahren zum Impressionismus zurück und lässt sich in seiner «Période vache» zu einem gewissen Kitsch hinreissen. 1965 richtet ihm das MoMA in New York eine Retrospektive aus. Für seinen späten Erfolg sorgen insbesondere die ihm nachfolgenden Künstler der Pop Art und der Konzeptkunst.

Marcel Mariën

Antwerpen (BE) 1920–1993 Schaerbeek (BE)

Marcel Mariën, der als Sohn eines wallonischen Vaters und einer flämischen Mutter in eine bescheidene Familie geboren wird, entwickelt schon früh eine Abneigung gegen Konformismus. 1937 lernt er in Brüssel René Magritte, Paul Nougé und andere belgische Surrealisten kennen, was ihm ermöglicht, in demselben Jahr sein erstes Objekt, L’introuvable (der Titel stammt von Magritte), auf einer surrealistischen Ausstellung in London zu zeigen. Als Kenner des Surrealismus pflegt er dennoch stets eine gewisse Distanz zur Bewegung. 1953 lernt er Jane Graverol kennen. Zusammen mit Paul Nougé gründen sie im folgenden Jahr die Zeitschrift Les Lèvres nues. 1954 bricht Mariën mit Magritte und stellt sich selbst als Gründervater der «Théorie de l’emmerdement maximal» (Murphys Gesetz) dar, um mit einer bescheidenen, kaustischen Produktion gegen einen Surrealismus zu kämpfen, der für seinen Geschmack zu wenig radikal ist. 1979 publiziert er das Standardwerk über die Geschichte des belgischen Surrealismus.

Henri Martinie

Corrèze (FR) 1881–1963 Paris (FR)

Die Fotografien von Henri Martinie zeugen von der lebendigen literarischen Szene in Paris zwischen den 1920er- und 1940er-Jahren. Seine Porträts französischer und zu Besuch weilender ausländischer Schriftsteller zeigen beispielsweise Philippe Soupault, Georges Bernanos, Jean Cocteau, James Joyce, Francis Fitzgerald und Paul Éluard. Sein Fotostudio profitiert zudem von einem für ihn reservierten Platz in der Nationalversammlung, was ihm erlaubt, eine umfangreiche Porträtreihe französischer Abgeordneter anzufertigen. Bei seinem Tod hinterlässt er etwa 15000 Negative.

Mayo

Port Said (EG) 1905–1990 Seine-Port (FR)

Antoine Malliarakis, der seit seiner Kindheit Mayo genannt wird, ist ein Nachkomme griechischer Einwanderer, die in Ägypten Zuflucht fanden. Er entdeckt den Kubismus in den Avantgarde-Zeitschriften, welche die Suezkanal-Gesellschaft aus Paris kommen lässt. 1923 lässt er sich für sein Studium in der französischen Hauptstadt nieder, wo er unter anderem Man Ray, Max Ernst und Yves Tanguy kennenlernt. 1927 nimmt er zum ersten Mal an einem Treffen der Surrealistengruppe teil. Er lehnt jedoch Bretons autoritären Führungsstil ab und schliesst sich Ende der 1920er-Jahre der Gruppe «Le Grand Jeu» an, die sich wie er für orientalische Philosophien interessiert. 1929 arbeitet er an der zweiten Ausgabe der Zeitschrift mit. In demselben Jahr nimmt er an der ersten Ausstellung der Gruppe «Le Grand Jeu» in der Galerie Bonaparte in Paris teil und dekoriert ein neues Nachtlokal in Berlin als Hommage an Maldoror, was zu einem Streit mit Breton führt, der ihn aus der Surrealistengruppe ausschliesst.

Pierre Molinier

Agen (FR) 1900–1976 Bordeaux (FR)

Pierre Molinier, Meister der Autoerotik und eine provokative, rebellische Persönlichkeit, brüskiert Bordeaux mit der Inszenierung seiner Fetische und Zertrümmerungen fest definierter Geschlechtervorstellungen. Dennoch ist er in die Kunstszene von Bordeaux integriert und nimmt ab 1928 regelmässig am regionalen Salon des Indépendants teil, zum letzten Mal im Jahr 1951, als sein Grand Combat einen Skandal auslöst. 1954 arbeitet Molinier auf Wunsch von André Breton am vierten Heft der Zeitschrift Le surréalisme, même mit, in der das Ergebnis einer Untersuchung über Striptease vorgestellt wird, und liefert ein Selbstporträt als «magisches Mädchen». Für seine Fotomontagen zerschneidet Molinier die Abzüge seiner Porträts und Selbstporträts mit der Schere, um die Körper gemäss den Codes seiner idealen Ästhetik mit anderen Beinen, Armen und Köpfen neu zusammenzusetzen. Sobald die Collage vollendet ist, fotografiert er sie und zerlegt sie dann wieder für neue Kompositionen.

Max von Moos

Luzern (CH) 1903–1979 Luzern (CH)

Max von Moos, Sohn eines Malerpaars, studiert an der Kunstgewerbeschule Luzern. Im Jahr 1929 besucht er die Ausstellung Surrealistische und abstrakte Malerei und Plastik im Kunsthaus Zürich, in der er die für ihn entscheidende Entdeckung eines Gemäldes von Max Ernst macht. Seine ersten surrealistischen Werke erscheinen zwei Jahre später, als er sich für einen christlichen Widerstand gegen den aufkommenden Nationalsozialismus engagiert. In den späten 1930er-Jahren schafft er von Hans Erni inspirierte Werke mit konstruktivistischen Anklängen. 1942 zwingt ihn ein Glaukom zu einer Augenoperation, die ein starkes Interesse für die Anatomie auslöst. Er arbeitet unter anderem an der Radiosendung «400 Jahre Anatomie: 1953–1943» mit, die nie ausgestrahlt wird. 1944 tritt er der Partei der Arbeit bei und ist Gründungsmitglied der Ortsgruppe der Gesellschaft Schweiz-Sowjetunion. 1961 richtet ihm das Kunstmuseum Luzern eine Retrospektive aus.

Max Morise

Versailles (FR) 1900–1973 Paris (FR)

Max Morise, Künstler und Übersetzer, beteiligt sich an den Aktivitäten der Pariser Surrealistengruppe. So erledigt er beispielsweise den Bereitschaftsdienst des von André Breton begründeten Bureau de recherches surréalistes und nimmt an den kollektiven Kreationen der Cadavres Exquis und den Tagtraum-Sitzungen teil, die in Bretons Salon stattfinden und die Vorstellungskraft anregen sowie gleichzeitig an unbewusste Wünsche und Erinnerungen anknüpfen sollen. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift La Révolution Surréaliste publiziert er 1924 den Artikel Les yeux enchantés, in dem er die Bedeutung einer surrealistischen Bildkunst für eine Bewegung untersucht, die hauptsächlich literarisch tätig ist. In den 1930er-Jahren spielt er mehrere kleine Filmrollen.

Meret Oppenheim

Berlin (DE) 1913–1985 Basel (CH)

Nach einem abgebrochenen Studium begibt sich Meret Oppenheim 1932 mit ihrer Landsfrau, der Malerin Irène Zurkinden, nach Paris und schliesst sich der Surrealistengruppe an, mit der sie 1933 im Salon des Surindépendants ausstellt. In der Gruppe wird sie vor allem auf ihre Rolle als Muse reduziert, wie die Aktfotografien und Porträts von Man Ray zeigen, die ihre androgyne Schönheit feiern. Im Jahr 1936, als sie ihren Lebensunterhalt mit dem Entwurf von Schmuck und Kleidung für die Haute Couture verdient, erwirbt das MoMA in New York ihr Déjeuner en fourrure, das zu einem der symbolträchtigsten Objekte des Surrealismus wird. In demselben Jahr findet ihre erste Einzelausstellung in der Galerie Schulthess in Basel statt.  Mittellos kehrt sie 1937 nach Basel zurück, wo sie zunehmend Erfolg hat. Ab 1967 wird ihr Werk in grossen Retrospektiven gezeigt.

Benjamin Péret

Rezé (FR) 1899–1959 Paris (FR)

Als treuer Weggefährte André Bretons ist Benjamin Péret von Anfang an ein aktives und zentrales Mitglied der Surrealistengruppe. 1919 lernt er Breton kennen und feiert mit der Publikation von Le Passager du Transatlantique 1921 einen bemerkenswerten Eintritt in die Gruppe der surrealistischen Dichter. Mit Pierre Nabille gestaltet er ab 1924 die ersten drei Ausgaben der Zeitschrift La Révolution Surréaliste. 1927 tritt er der Kommunistischen Partei bei und arbeitet als Journalist für die Zeitung L’Humanité. 1936 begibt er sich nach Spanien, um gegen die Truppen Francos zu kämpfen, und lernt die Malerin Remedios Varo kennen, die seine Lebensgefährtin wird. Während der Besatzungszeit beteiligt er sich an illegalen Literaturzeitschriften und flieht nach Marseille, wo er sich den auf ein Visum wartenden Surrealisten anschliesst. Er erhält ein Visum für Mexiko, wohin er 1941 reist und wo er seine surrealistischen Aktivitäten fortsetzt.

Gisèle Prassinos

Konstantinopel (TR) 1920–2015 Paris (FR)

Gisèle Prassinos wird in eine griechische Familie geboren, die gezwungen ist, die Türkei zu verlassen. 1922 gelangt sie nach Paris. Ihr Bruder Mario stellt sie 1934 den Surrealisten vor. Ihre Begabung für das automatische Schreiben fasziniert die Gruppe, und Gedichte der Vierzehnjährigen erscheinen in der Zeitschrift Minotaure und in Documents 34. Einige dieser Texte nimmt sie 1935 in ihr erstes Buch La Sauterelle arthritique auf. Sie bricht daraufhin die Sekundarschule ab, um Stenotypistin zu lernen, und beginnt für einen Fakir zu arbeiten. In dieser Zeit verfasst sie insbesondere Le Feu maniaque, das 1936 erscheint. Drei Jahre später verlässt sie die Surrealistengruppe. 1958 publiziert sie Le temps n’est rien und im folgenden Jahr La Voyageuse, zwei Werke, die grossen Erfolg finden. Ab 1968 unternimmt sie neben ihrer literarischen Tätigkeit das, was sie ihr «Handwerk» nennt, und fertigt eine Reihe von Holzfiguren, Stickereien, Tapisserien und Patchworkarbeiten aus Stoff an.

Mario Prassinos

Konstantinopel (TR) 1916–1985 Avignon (FR)

Wie die anderen Griechen von Atatürk aus der Türkei vertrieben, lässt sich Mario Prassinos 1922 mit seiner Familie in Frankreich nieder. Dank seiner Schwester Gisèle, deren Gedichte er 1934 mit seinen ersten Werken illustriert, tritt Mario Prassinos mit den Surrealisten in Verbindung. Er entwickelt einen Stil, der einer lyrischen Ästhetik nahesteht, und stellt 1937 zum ersten Mal in der Schau Art cruel aus. Seine damaligen Gemälde wie La Bataille de Fontenoy von 1937 zeigen Einflüsse des Expressionismus, des Kubismus und eines frühen Surrealismus. Er meldet sich freiwillig zum Krieg, aus dem er verwundet und hochdekoriert zurückkehrt, und erhält neun Jahre später die französische Staatsbürgerschaft. Zwischen 1941 und den 1960er-Jahren illustriert er Buchumschläge für den Verlag Gallimard. 1949 kehrt er Paris den Rücken und lässt sich 1951 in Eygalières nieder, wo er sein Werk in Form von Tapisserien, Zeichnungen, Illustrationen und Bühnenbildern fortsetzt.

Man Ray

Philadelphia (USA) 1890–1976 Paris (FR)

Emmanuel Rudnitsky, genannt Man Ray, ist mit Marcel Duchamp und Francis Picabia Vorreiter einer erweiterten, nicht-retinalen Kunst und trägt mit seinem vielseitigen Werk, das Gemälde, Objekte, Assemblagen, Fotografien und Filme umfasst, wesentlich zu den künstlerischen Debatten des 20. Jahrhunderts bei. Er wächst in New York auf, wo er 1913 auf der Armory Show das Werk von Marcel Duchamp entdeckt. Gemeinsam bilden sie das New Yorker Pendant zur Dada-Gruppe. 1921 begibt er sich nach Paris und schliesst sich der Surrealistengruppe an. Gestützt auf seine Ausbildung als Industriezeichner, experimentiert er mit fotografischen Verfahren wie der Solarisation und perfektioniert die Fotogramme. Sein Werk zeichnet sich durch eine Verwandlung des physischen Subjekts aus, wie seine berühmte Fotografie Le violon d’Ingres von 1924 zeigt: Einen weiblichen Rückenakt versieht er mit f-Löchern, um die Frau mit dem Bild einer Geige verschmelzen zu lassen, eine Fusion von Subjekt und Objekt wie eine Vereinigung mit dem Bild.

Hans Richter

Berlin (DE) 1888–1976 Minusio (CH)

Die Begegnung mit Marinetti 1913 in Berlin prägt Hans Richter und begründet seine Faszination für technische Entdeckungen. 1916 lässt er sich in Zürich nieder, wo er den schwedischen Filmemacher Viking Eggeling kennenlernt, der seine spätere Filmarbeit entscheidend beeinflusst. Er schliesst sich der Dada-Bewegung an und entwickelt 1918 eine gleichsam abstrakte Malerei, indem er sich schematisch auf die Zerlegung der Bewegung konzentriert. In den 1920er-Jahren nach Berlin zurückgekehrt, beginnt er 1925 mit seinen Filmexperimenten. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begibt er sich in die Vereinigten Staaten und verkehrt mit anderen europäischen Exilkünstlern wie Marcel Duchamp und Max Ernst. Sein Film Dreams that Money Can Buy (Träume zu verkaufen) von 1941 wird nie vermarktet, übt aber einen erheblichen Einfluss auf die New Yorker Avantgarde der Nachkriegszeit aus.

Robert Rius

Perpignan (FR) 1914–1944 Fontainebleau (FR)

Robert Rius, Ende der 1930er-Jahre und während des Zweiten Weltkrieges Sekretär André Bretons, publiziert schon früh seine ersten literarischen Essays. Nach einem kurzen Aufenthalt in Toulouse lässt er sich zwischen 1932 und 1935 nach und nach in Paris nieder, wo er mit kleinen Jobs seinen Lebensunterhalt verdient. Die Begegnung mit den Surrealisten um 1937 ist entscheidend. Als Mitgründer des surrealistischen Spiels Dessins Communiqués zusammen mit Benjamin Péret, Breton und Remedios Varo im Jahr 1937 steht er im Zentrum der spielerischen und kreativen Experimente der Gruppe. Während des Krieges weigert er sich, Paris zu verlassen, baut mit der Herausgabe der surrealistischen Untergrundzeitschrift La main à plume, in der das Gedicht «Liberté» von Paul Éluard erscheint, eine literarische Résistance auf und schliesst sich dem bewaffneten Widerstand an. Von den Nazis gefangen genommen, wird er mit 30 Jahren im Gefängnis von Fontainebleau hingerichtet.

Friedrich Schröder-Sonnenstern

Kaukehmen (RU) 1892–1982 Berlin (DE)

Friedrich Schröder-Sonnenstern, der in Russland nahe der deutschen Grenze als zweites von dreizehn Kindern geboren wird, erhält er fast keine Schulbildung und wird bereits mit 14 Jahren in ein Erziehungsheim gesteckt. Nach einem Pferdediebstahl, für den man ihn als unzurechnungsfähig erklärt, bringt man ihn 1918 in die Klinik von Sowetsk (Tilsit). Nach seiner Entlassung lässt er sich unter dem falschen Namen Gustav Gnass in Berlin nieder. Nach mehreren Verurteilungen wird er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er zu zeichnen beginnt. Seine anstössigen Werke, die hybride Geschöpfe mit oft sexualisierten Körperhaltungen in karnevalesken Szenen darstellen, findet Ende der 1940er-Jahre insbesondere in surrealistischen Kreisen Beachtung. 1959 wird er von André Breton und Marcel Duchamp eingeladen, an der Exposition InteRnatiOnale du Surréalisme E.R.O.S. in der Galerie Daniel Cordier in Paris teilzunehmen.

Sonja Sekula

Luzern (CH) 1918–1963 Zürich (CH)

Sonja Sekula, Tochter eines ungarischen Vaters, studiert Kunst in Budapest und Florenz. 1936 zieht ihre Familie von Luzern nach New York, wo sie Anfang der 1940er-Jahre mit einigen der in die Vereinigten Staaten geflüchteten Surrealisten, aber auch mit Jackson Pollock und Robert Motherwell verkehrt. Sie freundet sich mit John Cage und Merce Cunningham an, für den sie Tanzkostüme entwirft. Das folgende Jahrzehnt ist ihre erfolgreichste Zeit, in der ihre biomorphen Formen, die zwischen Surrealismus und abstraktem Expressionismus schwanken, immer mehr Beachtung finden. Auf Reisen lernt sie die nordamerikanischen indigenen Kulturen kennen, die ihre Arbeit ebenfalls prägen. 1943 stellt sie zum ersten Mal in Peggy Guggenheims Galerie Art of this Century im Rahmen der Schau Exhibition by 31 Women aus. Die psychische Instabilität, die sie seit ihrer Jugend verfolgt, verstärkt sich zusehends. Wenige Wochen nach ihrem 45. Geburtstag nimmt sie sich in ihrem Atelier in Zürich das Leben.

Kurt Seligmann

Basel (CH) 1920–1962 Sugar Loaf (USA)

Kurt Seligmann gelangt 1929 nach Paris und nimmt ab 1934 an den Treffen der Surrealistengruppe teil, mit der er eine Vorliebe für das Okkulte, das Spirituelle und den magischen Symbolismus teilt. In Paris setzt er seine künstlerische Tätigkeit fort, nachdem er in Basel privaten Kunstunterricht erhalten und in Genf die École des Beaux-Arts besucht hat. 1932 gelingt Seligmann der künstlerische Durchbruch mit einer Einzelausstellung in der Galerie Jeanne Bucher in Paris und einer Gruppenausstellung mit Hans Arp, Serge Brignoni und Hans Rudolf Schiess in Basel und Bern. 1938 nimmt er an der Exposition Internationale du Surréalisme in Paris teil. In New York, wo er sich 1939 niederlässt, fungiert er als Vermittler zwischen den europäischen Exil-Surrealisten und den aufstrebenden Künstlern der New Yorker Schule. 1948 veröffentlicht er Mirror of Magic, ein Kultbuch, das die Entwicklung der Magie und des Okkulten vom alten Ägypten bis ins 18. Jahrhundert darstellt.

Joseph Sima

Jaromer (CZ) 1891–1971 Paris (FR)

Joseph Sima, ein Maler tschechischer Herkunft, der in Paris lebt, entwickelt eine traumhafte und poetische Malerei, die dem Symbolismus nahesteht. Der in Böhmen geborene Sohn eines Steinmetz und Zeichenlehrers ist für eine künstlerische Laufbahn prädestiniert. Er studiert Kunst in Prag, bevor er 1921 nach Paris gelangt. Fünf Jahre später erlangt er die französische Staatsbürgerschaft und lernt die wichtigsten Surrealisten kennen, darunter André Breton und Paul Éluard. Sein Porträt von Roger Gilbert-Lecomte aus dem Jahr 1929 zeugt von seiner Verbindung mit der Gruppe «Le Grand Jeu», die 1928 gegründet wird, ein Jahr nachdem er die «phrères simplistes» Roger Gilbert-Lecomte, René Daumal, Roger Vaillant und Robert Meyrat kennengelernt hat. Diese finden in seinen Werken mehrere wichtige Anknüpfungspunkte, die mit ihren poetischen und literarischen Verfahren verbunden sind, und nehmen ihn in ihre Gruppe auf. 1929 porträtiert Joseph Sima seine Kameraden für ihre erste Ausstellung Révolutions et révélations.

Yves Tanguy

Paris (FR) 1900–1955 Woodbury (USA)

Yves Tanguy, Maler des Wartens und der Stille, entdeckt den Surrealismus in den 1920er-Jahren dank der Zeitschrift La Révolution surréaliste. Geprägt durch ein Gemälde von Giorgio de Chirico, malt er 1925 zunächst Landschaften, die eine expressionistische und naive Ästhetik mit fantasievollen Elementen verbinden. Er lernt die Surrealisten kennen und nimmt an ihren Ausstellungen teil, schafft automatische Zeichnungen und Collagen und beteiligt sich an den kollektiven Spielen der Cadavres Exquis. Allerdings wird er dieser Experimente bald überdrüssig und wendet sich wieder vermehrt der Malerei zu. In seiner ersten Einzelausstellung zeigt er 1927 von Zellformen belebte mineralische Landschaften. 1938 entdeckt er im Salon des Surindépendants die Werke von Kay Sage. Er folgt ihr im folgenden Jahr in die Vereinigten Staaten und heiratet sie 1940. Sieben Jahre später wird er amerikanischer Staatsbürger.

Dorothea Tanning

Galesburg (USA) 1910–2012 New York (USA)

Dorothea Tanning, Malerin und Muse der Surrealisten, ist eine zentrale Figur des amerikanischen Pendants der Bewegung, die vor allem durch das legendäre Paar geprägt ist, das sie mit Max Ernst bildet. Nach Kunststudien in Chicago lässt sie sich 1936 in New York nieder, wo sie einige Jahre später mit der Gruppe der Exil-Surrealisten verkehrt. Sie zeigt ihre Werke insbesondere in der 1943 von Peggy Guggenheim veranstalteten wichtigen Schau Exhibition by 31 Women und später in der Julien Levy Gallery. Ihre Arbeiten der Nachkriegszeit erkunden Traumata sowie Angst- und Furchtzustände der Kindheit sowie die sexuellen Fantasien einer weiblichen Subjektivität, in der die Windungen der Lust wie in My Life in the Blue Room von 1943 tierische oder menschliche Geschöpfe überwältigen. Diese halluzinatorischen Visionen nehmen oft wie in The Mirror von 1950 die Form übersteigerter Sonnenblumen in betörender traumhafter Kälte an.

Raoul Ubac

Köln (DE) 1910–1985 Dieudonné (FR)

Raoul Ubac wächst in einer bürgerlichen Familie mit deutschen und belgischen Wurzeln in den belgischen Ardennen auf, wo er seiner Vorliebe für die Einsamkeit und das Wandern frönt und zu fotografieren beginnt. Er interessiert sich für den Surrealismus, mit dem ihn ein Wille zur Emanzipation von dunklen Mächten verbindet. Er nimmt an den Aktivitäten der Gruppe teil und publiziert seine ersten Arbeiten in der Zeitschrift Minotaure. Dazu gehören insbesondere seine fotografischen Experimente mit Solarisation, Überlagerungen und Bearbeitungen des Negativs, die bewirken, dass sich die Sujets im Bild auflösen. Während des Krieges distanziert er sich von der Bewegung und verlässt sie 1946. Gleichzeitig gibt er seine fotografische Tätigkeit auf und wendet sich der Malerei zu, um Gemälde, Gouachen und Druckgrafiken zu schaffen, zu denen Mosaike, Flachreliefs und Tapisserien hinzukommen. 1968 richtet ihm das Musée national d’art moderne in Paris eine Retrospektive aus.

Remedios Varo

Anglés (ES) 1908–1963 Mexico City (MX)

Remedios Varo, die in der Provinz Girona geboren wird, lässt sich in Madrid nieder, um an der Real Academia de bellas artes de San Fernando zu studieren. 1932 zieht sie nach Barcelona und kommt dort mit der katalanischen Avantgarde in Kontakt. Sie schliesst sich der Gruppe Logicophobista an, welche die Vereinigung der Kunst mit der Metaphysik anstrebt. 1936 lernt sie Benjamin Péret kennen und begleitet ihn im folgenden Jahr nach Paris, wo sie die Surrealistengruppe kennenlernt und an deren Ausstellungen teilnimmt. 1940 flüchtet sie aus Paris und findet mit anderen Surrealisten vorübergehend Unterschlupf in der Villa Air Bel in Marseille. 1941 lassen sich Varo und Péret in Mexiko nieder, wo sie malt, präkolumbische Artefakte restauriert, Kostüme entwirft und Werbekampagnen konzipiert. Dort findet 1955 ihre erste Einzelausstellung statt, in der ihre minuziöse Malerei in der Art von Hieronymus Bosch, den sie im Prado entdeckt hatte, einen grossen Erfolg feiert.

 

Marie Vassilieff

Smolensk (RU) 1884–1957 Nogent-sur-Marne (FR)

Marie Vassilieff, die in eine Familie von Landbesitzern geboren wird, beginnt 1903 an der renommierten Kunstakademie in Sankt Petersburg zu studieren. Dank eines Stipendiums gelangt sie 1905 nach Paris. Dort entwickelt sie in den 1910er-Jahren eine kubistisch inspirierte Malerei und stellt ihre ersten «Porträtpuppen» her, die von der russischen Volkstradition und dem damals beliebten Primitivismus angeregt sind. Ihre Poupées von 1938 zeugen von diesen Einflüssen, während sie das von ihr besonders geschätzte Thema der Kindheit in den Mittelpunkt ihrer Malerei stellt. In der Avantgarde-Szene von Montmartre wird sie zu einer wichtigen Figur. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg verlässt sie Paris und lässt sich in Südfrankreich nieder. Mit Blumen und religiösen Ikonen erinnert die farbenfrohe Malerei dieser Zeit an ihre russische Heimat.

Irène Zurkinden

Basel (CH) 1909–1987 Basel (CH)

Dank eines Stipendiums, das sie während ihrer Ausbildung zur Modezeichnerin in Basel erhält, begibt sich Irène Zurkinden 1929 nach Paris. Dort arbeitet sie mit ihrer Landsfrau Meret Oppenheim und anderen Mitgliedern der Surrealistengruppe zusammen. Ihre impressionistisch geprägten Werke stellen Personen und urbane oder intime Landschaften dar. Ihre Porträts von Angehörigen zeichnen sich durch rasche Pinselstriche von virtuoser Leichtigkeit aus und zeugen von einem Interesse an Kostümen und kosmetischen Verschönerungen. 1941 kehrt sie nach Basel zurück und stellt im folgenden Jahr zum ersten Mal aus. In den 1930er-Jahren malt sie sich aufgrund ihrer Reisen zunehmend Landschaftsbilder, die in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sind, insbesondere in Basel, wo ihr das Kunstmuseum 1985 eine grosse Werkschau ausrichtet.

Unica Zürn

Berlin (DE) 1916–1970 Paris (FR)

Unica Zürns Werk, das Schrift und Tuschezeichnung vereint, fällt durch seine Einzigartigkeit und seinen intermedialen Aspekt auf, in dem sich die verbale mit der malerischen Sprache mischt. Mit Hans Bellmer, den sie 1953 in Berlin kennenlernt, lässt sie sich in Paris nieder, wo er sie Mitgliedern der Surrealistengruppe vorstellt, darunter André Breton, Meret Oppenheim, Max Ernst und Marcel Duchamp. Sie fertigt ihre ersten Anagrammes an, die ihre künstlerische Suche und die Erkundung verschiedener Seinszustände einer stets vielgestaltigen Subjektivität einleiten. Ihr Schaffen ist durch ihre Krisen und zahlreichen Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken geprägt. Ihr Text Der Mann im Jasmin, den sie 1963–1965 in einer Anstalt schreibt, zeugt von dem wichtigen Platz, den die Geisteskrankheit und die Schizophrenie in ihrem Werk einnimmt. 1959 sind ihre Arbeiten in der Exposition surréaliste internationale der Galerie Daniel Cordier in Paris zu sehen. 1970 wählt sie den Freitod.

2.Etage

Einführung

Auch wenn die hier vereinten Künstlerinnen und Künstler sich in ihrer Arbeit nicht explizit auf den historischen Surrealismus beziehen, erfinden sie neue Formen, um Aussagen über eine Welt in tiefgreifendem Wandel zu machen. Sie sind ungezügelte und mutige Enkelkinder des Surrealismus. Und sie bekräftigen durch die Vielfältigkeit ihrer Vorgehensweisen ihr Misstrauen gegenüber der Sprache und ihren Glauben an die Allmacht der Erzählung in poetischer und politischer Hinsicht, bringen ihre Faszination für die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren zum Ausdruck und feiern die Allgegenwart der Erotik. Die Ausstellung ist wie eine grosse Landschaft konzipiert, in der hybride Arbeiten die Praxis des Cadavre exquis in einer Übung der Versöhnung zwischen Realem und Imaginärem neu beleben.

Tristan Bartolini

(geb.1997, lebt und arbeitet in Genf)

Die Installation Channeling Ancestors (2022–2024), die mit den Codes des Okkultismus und der Science-Fiction spielt sowie als ritueller Raum und Schauplatz einer Space Opera konzipiert ist, sucht die Erinnerung an eine frühere Existenz wiederzubeleben. Monumentale Artefakte, Zeugnisse einer untergegangenen Kultur, werden zum Leben erweckt durch Projektionen, in denen ausserirdische Wesen in ihrer eigenen Sprache prechen und die Geschichte ihrer Gesellschaft erzählen. Indem sich Tristan Bartolini vom Leben und Werk des Genfer Mediums Elise Müller inspirieren lässt, gestaltet er ausgehend von seinem eigenen Körper ein Alter Ego, durch das er in einem retro-futuristischen Ansatz eine queere Genealogie schafft.

Gorge Bataille

(geb.1985, lebt und arbeitet in Paris)

Gorge Bataille stellt gerne Raubkopien der Literatur her, um deren Autorität zu untergraben. Ihre Poesie entsteht aus dem Zusammenprall und der gekonnten Vermischung verschiedener Sprachtypen. Mit Fatal*e (2024) entwickelt sie einen Text, der den Sinnverlust und die Suche nach Schönheit hinterfragt. In Anknüpfung an die literarischen Avantgarden schafft die Künstlerin ein seltsames Objekt ohne Anfang und Ende wie eine Partitur, deren Sequenzen unendlich reproduzierbar sind. In Zusammenarbeit mit der Grafikdesignerin Roxanne Maillet setzt sie in grossem Massstab bildhafte Poesie in rebellische Jugendsprache um, die sich, wenn sie knapp wird, mit Emojis füllt. Eine undisziplinierte, postbinäre typografische Sturzwelle, Fatal*e führt die Forschungsarbeit weiter, welche die Autorin über die Bastardsprache betreibt.

Matthias Garcia

(geb.1994, lebt und arbeitet in Paris)

Die Allmacht des Märchens und die durch die Fantasie bewirkte Veränderung der Erzählung sind zentral in Matthias Garcias Arbeit. Mittels der Figur der Meerjungfrau gibt er seinen Gemälden fortwährend neuen Sinn. Lehnt jene aus Andersens grausamem Märchen ihre hybride Natur ab, als sie erfährt, dass die Seele der Menschen ewig ist, so sucht Garcias Meerjungfrau nach Akzeptanz ihrer Andersartigkeit. Während Figuren und Motive aus dem Dekor aufsteigen, entsteht eine innere Landschaft voller fantastischer Kreaturen und Blumenkinder mit intimer Symbolik. So zeichnet sich eine Geschichte mit einer völlig anderen Moral ab, als gebe es eine mögliche Versöhnung zwischen Traum und Wirklichkeit.

Maëlle Gross

(geb.1988, lebt und arbeitet in Lausanne)

Maëlle Gross, die sich für die Geschichte der Hexerei und deren Beziehungen zum Feminismus interessiert, überdenkt die Figur der Elise Müller, welche die Surrealisten zu einer wahnhaften Hellseherin machten, um sie als Inspirationsquelle zu nutzen. Im ausgehenden 19.Jahrhundert erlebt das Medium, das unter dem Namen Hélène Smith bekannt ist, nachtwandlerische Trancezustände, in denen es von Visionen heimgesucht wird. Smith sammelt insbesondere Texte in der Sprache der Marsianer, um sie ins Französische zu übersetzen, und entwickelt so eine Form des automatischen Schreibens. In ihrer Installation eignet sich Maëlle Gross dieses Marsalphabet an, um eine neue Poesie zu erfinden. Sie spielt die Episoden der Erscheinungen nach und gibt dem «hässlichen Tier Astané» die Gestalt eines aus einem imaginären Land gelandeten Low-Tech-Roboters.

Anne Le Troter

(geb.1985, lebt und arbeitet in Paris)

In ihrer Arbeit untersucht Anne Le Troter die Plastizität der Sprache und die Art und Weise, wie diese durch kapitalistische Leistungsanforderungen infiziert wird. Die Installation La Pornoplante (2021–2024), die auf eine Reihe von Albträumen zurückgeht, erzählt die Umwandlung eines Menschen in eine Pflanze: ein anzüglicher erotischer Bericht über eine Erektion, die gemäss dem Zyklus der Natur in der Sonne anschwillt und im Herbst zusammenschrumpft. Der Text ist von der «Unabhängigen sensorischen Meridianreaktion» (ASMR) inspiriert, einer Entspannungstechnik, die seit etwa zehn Jahren im Trend liegt.

Charlie Malgat

(geb.1990, lebt und arbeitet in Paris)

Charlie Malgat lädt uns ein, in ihrer Installation Double Paysage (2024) umherzugehen, einem weichen, abstrakten Wald aus verkohlten Bäumen, der seltsame rosa Öffnungen besitzt. Diese leblosen Körper sind in Latex gehüllt, ein Fetischmaterial der Künstlerin mit fleischlicher und sinnlicher Bedeutung, und möchten gestreichelt werden. Charlie Malgat untersucht die trüben Territorien an der Grenze zwischen Innen und Aussen und Häute, die auf ihrer Oberfläche zeigen, was im Innern geduldig aufgebaut und zusammengefügt wurde. Mit ihrem neuen Video führt sie eine karikaturistische Figur ein, die zugleich abstossend und anziehend ist, eine Art ubueskes Alter Ego der Künstlerin im Zustand der Verwesung.

Lou Masduraud

(geb.1990, lebt und arbeitet in Genf)

In ihren Installationen interessiert sich Lou Masduraud für Netzwerke und Versorgungssysteme, welche die für menschliche Aktivitäten erforderliche Infrastruktur sicherstellen: Strassenbeleuchtung, Kanalisation, Untergrund. Für Spit Kiss from Earth (2022) liess sie sich von dem Brunnen inspirieren, den Meret Oppenheim für den Waisenhausplatz in Bern entwarf und auf dem ein sich ständig veränderndes Biotop gedeiht. Zu dieser organischen Umwandlung kommt die erotische Bedeutung des Munds hinzu, aus dem sich ein Wasserstrahl ergiesst. Öffnungen, die sich in den Wänden des Brunnenbeckens wiederfinden, kommen in der Arbeit der Künstlerin häufig vor. Als Schnittstelle zwischen Sichtbarem und Verborgenem, zwischen dem sozialen Körper und dem Intimen ist das Loch eine Metonymie, welche die einfache Mechanik des Begehrens übersteigt. Es bietet auch eine Fluchtmöglichkeit und lädt dazu ein, das Unbekannte zu erforschen.

Jakob Rowlinson

(geb.1990, lebt und arbeitet in London)

Das Universum von Jakob Rowlinson verknüpft natürliche Welt und mittelalterliche Symbolik, um die im Laufe der Zeit wechselnden Darstellungen von Begehren und Männlichkeit hinterfragen zu können.
Seine aus Fundmaterialien hergestellten Masken übernehmen Elemente des Tarot-Spiels, erinnern aber auch an Masken, die in Rahmen der Fasnacht oder bei Sexspielen getragen werden. Die Ledergesichter sind hohl, doch ihre Perforationen verleihen ihnen fetischistische Bedeutung. In komplexer Collage- und Assemblagetechnik verwendet der Künstler Motive aus Kunsthandwerk und aus mittelalterlichen Handschriften, zum Beispiel Weinblätter und Farne, um dieses seltsame Bestiarium zu schmücken.

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